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Gemeinsame Traumaverarbeitung: Brodie (Devin Way, links) und Noah (Johnny Sibilly).

© Peacock

Seriensuchtgefahr auf Starzplay: Gelungenes Remake von „Queer as Folk“

Als „Queer as Folk“ vor 23 Jahren schwule Männer zu Stars einer TV-Serie erkor, war das ein Urknall. Das Remake muss sein Publikum anders wachrütteln.

Wenn Darbietungen mit diesem Hinweis aus der Traumatherapie versehen sind, droht Zuschauern Ungemach. Was hier zu sehen und hören ist, kann bei empfindsamen Gemütern Abwehr, Angst, gar Panik erzeugen. Vor dem Auftakt einer weiteren Fiktion aus dem – nächste Sprachschöpfung der Achtsamkeitsgesellschaft – LGBTQ+-Kosmos wäre demnach eine Triggerwarnung absolut angebracht.

Am Anfang vom zweiten Remake der legendären Milieustudie „Queer as Folk“ nämlich treiben es zwei Kerle so sichtbar, dass Starzplay durchaus vor Pornografie warnen dürfte. Und in der Tat: Das Videoportal von Amazon Prime mahnt bei Ansicht dieser Peacock-Adaption zur Obacht – wenngleich nicht vor explizitem Sex, sondern vor der terroristischen Gewalt, die 30 Minuten später zu sehen ist. Alles eine Frage der Umstände.

Als Russell T Davies das Original dieser buchstäblich bahnbrechenden Serie 1999 ins Fernsehen seiner britischen Heimat brachte und Monate später für den amerikanischen Markt adaptierte, hätte der schwule Autor schließlich kaum genug Warnhinweise auf die Milieustudien aus Manchester und Pittsburgh drucken können – so groß waren da noch die heteronormativen Ressentiments gegen ein Format, das den gewöhnlichen Alltag Homosexueller zeigt.

[„Queer as Folk“, Starzplay]

Fast 17 Jahre nach der letzten von 83 US-Folgen aber hat sich der Wind gedreht. Bei der Erstausstrahlung von „Queer as Folk“ wurde das Vereinigte Königreich zwar vom liberalen Tony Blair regiert und die Vereinigten Staaten vom politisch gleichtickenden Bill Clinton; doch ihre Länder waren für die Schilderungen jeweils fünf schwuler Freunde im bürgerlichen Mainstream alles andere als offen. Auch deshalb bemühte sich Davies fast krampfhaft, seine Figuren trotz HIV und Drogen so „normal“ wie möglich zu zeichnen.

Der promiskuitive Brian etwa war viril, flatterhaft und überdies mit dem anfangs minderjährigen Justin liiert. Wie sein Kumpel Mikey, der Paradiesvogel Emmett und Ted, das intellektuelle Feigenblatt dieser hedonistischen Clique weißer Mittelstandskinder, hat er jedoch ein geregeltes Auskommen und solide Manieren. Für intersektionell genannte Mehrfachdiskriminierungen war das Fernsehen noch nicht bereit, als „Queer as Folk“ den Boden für Serien wie „The L Word“ oder „All you need“, lesbische Kommissarinnen und schwule Pilcher-Schwiegersöhne bereiten durfte.

„Queer as Folk“ für diverse andere Serien

Heute krähen höchstens noch CSU und „Bild“ danach, wenn der Schwarze Folk-Star Brodie (Devin Way) zum Staffelauftakt einen One-Night-Stand hat, den er halbnackt auf den Straßen von New Orleans verlässt, wo die queere Community ihr immerwährendes Straßenfest lustvoller Diversität zu feiern scheint. Wenn er der Transfrau Ruthie (Jesse James Keitel) und ihrer afroamerikanischen Freundin Shar (CG) Sperma zur Fortpflanzung spendet und sich den Trennungsschmerz von Ex-Lover Noah (Johnny Sililly) beim Clubklo-Quickie mit dem Teenager Mingus (Fin Argus) austreibt. Überhaupt: wenn sein gesamtes Umfeld alles, was LGBTQ+ abkürzt, offen und selbstbewusst zur Schau trägt.

Ein halbes Leben nach Carsten Flöters gleichgeschlechtlicher Kuss-Premiere in der „Lindenstraße“ ist das längst ebenso fiktionales Einerlei wie Ryan O’Connell (bekannt aus „Ein besonderes Leben“) als Brodies Bruder Julian, dessen geistige Behinderung nun keiner Erwähnung mehr wert ist. Und weil Normalität nebst Ausnahmezustand 2005 noch ganz anders definiert wurden als 2022, zieht Showrunner Stephen Dunn ein Ereignis aus der 80. Episode des „Queer as Folk“-Originals heute gleich in die erste vor.

Während ein homophobes Attentat auf Brians Club „Babylon“ ehedem das Serienende eingeleitet hatte, steht der Terrorangriff diesmal am Anfang der Staffel. Brodie hat fortan Panikattacken und Ruthie Bindungsängste, Noah betäubt sich mit Drogen und die Anderen mit anonymem Sex, passiver Aggressivität und zynischer Selbstverleugnung.

Wie den Originalen geht es „Queer as Folk“ also um Halt(ung) am Rand des Untergangs – einst im reaktionären Mainstream nach Reagan und Thatcher, jetzt im reaktionären Backlash der Trumps und Johnsons.

Wie Davies auf den Straßen von Pittsburgh gelingt es Dunns Team wechselnder Autorinnen und Regisseure aber auch unter Floridas Sonne, die Traumata der (Über)Lebenden mit Energie und Kampfkraft zu paaren.

Dafür sorgen auch Juliette Lewis und Kim Cattrall als exzentrische Mütter ambivalenter Charaktere. Triggerwarnung: „Queer as Folk“ macht süchtig. Schon wieder.

Jan Freitag

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