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Erste Spuren. Kommissarin Tessa Ott (Carol Schule, links) und ihre Kollegin Isabelle Grandjean (Anna Pieri Zuercher) am Fundort der Leiche.

© Sava Hlavacek/Degeto/SRF/dpa

Schweizer „Tatort“: Die toten Augen von Zürich

Der Schweizer „Tatort“ taucht samt Ermittlerinnen in die Kunstszene ein.

Als der Zürcher Schönheitschirurg Beat Gessner (Imanuel Humm) nach einer soeben beendeten Operation in seiner Praxis an den Schreibtisch zurückkehrt, da ist gerade die Post eingetroffen. Gessner öffnet den Umschlag und zieht eine Fotografie seines Sohnes (Vincent Furrer) heraus. Jahre hat er Max nicht mehr gesehen.

Auf der Rückseite ist handschriftlich eine Internetadresse notiert. Sofort tippt Gessner daraufhin die Webseite ein – und landet in einem Chat im Darknet. Er wird gefragt, ob er seinen Sohn wiedersehen wolle, und als Gessner bejaht, wird ihm eine Adresse in Zürich genannt. („Tatort: Schattenkinder“, Sonntag, ARD, 20 Uhr 15)

Der Schönheitschirurg macht sich auf den Weg, der ihn in eine abgelegene leerstehende Fabrikhalle führt, in der nichts ist außer einer weißen, von der Decke herabhängenden Puppe. Auf den ersten Blick mag es noch wie eine moderne Kunstinstallation wirken, einem Kokon gleich, auf den zweiten bemerkt Gessner, dass es unter dem herunterhängenden, eingehüllten Korpus tropft.

Gessner stürzt darauf zu, schiebt Holzkisten darunter, wickelt einige Lagen auf, um in ein über und über tätowiertes Gesicht mit starren Augen zu blicken. Diese Augen, deren Hornhaut tätowiert wurde, sind die toten Augen seines Sohnes Max.

„Schattenkinder“ lautet der Titel des neuen, überaus eigenen und kühlen Zürcher „Tatorts“, den die aus Basel stammende, heute in München lebende Regisseurin Christine Repond nach dem Drehbuch von Stefanie Veith und Nina Vukovic in Szene gesetzt hat.

er dritte Fall von Isabelle Grandjean (Anna Pieri Zuercher) und Tessa Ott (Carol Schuler) führt die beiden Kommissarinnen vordergründig in die moderne Kunstszene, doch es geht um das Dahinter.

Die Spur führt Grandjean und Ott zu der Künstlerin Kyomi (Sarah Hostettler), deren Kunstobjekte – neben Installationen und Experimentalkurzfilmen – der Mensch ist: Kyomi, die mit einigen ihrer Anhänger in einem Atelier-Loft wohnt, wo sie spiritistische Sitzungen abhält und sich mit jedem Wort und jedem Gestus selbst inszeniert und stilisiert; einige aus ihrer Gefolgschaft macht sie zum Objekt, tätowiert sie, schert ihre Köpfe kahl.

„Meine Beurteilung? Was hast du geschrieben?“

Und sie bearbeitet auch ihre Augen, was ein unsagbar schmerzlicher Vorgang ist. Es gehe ihr auch um den Schmerz der Vergangenheit, so Kyomi. Die, die sich diesem Prozess unterwerfen, Anna „Indira“ (Zoë Valks) und Philipp „Shin“ (Tim Borys) etwa, finden bei Kyomi zu einem anderen Leben, nachdem sie sich zuvor abhandengekommen sind.

Wie sagt die wesentlich abgeklärtere Isabelle Grandjean einmal zu der wesentlich emotionaleren, durch die Kunst Kyomis auf eigenartige Weise berührte Tessa Ott so schön prosaisch: „Ziemlich viel Pathos!“

„Schattenkinder“ geht in seiner Narration zum einen der Spur um Kyomi nach, ihren lebenden Kunstobjekten, ihrem Hang zur absoluten Stilisierung der Dinge des Lebens, und um ihren überaus engagierten Galeristen Bruno Escher (Fabian Krüger), der das große Geld zu wittern scheint.

Zum anderen – und das ist ein Erzählstrang, eher en passant gehalten – ist da die kleine Geschichte um Ermittlerin Tessa Ott, durch die eine Verunsicherung geht, die sich einem Verfahren stellen muss und schließlich von Kollegin Grandjean bewertet werden soll. Und die sich hingezogen fühlt zur Künstlerin Kyomi.

Diese Ermittlerinnen-Figur, das wird in „Schattenkinder“ noch nuancierter herausgearbeitet als in den vorherigen Filmen, ist eine zerbrechliche, eine, die nicht immer ihren inneren Halt findet, eine, wie sich nun herausstellen soll, die einen Suizidversuch hinter sich hat. Ob sie sich überhaupt auf sie verlassen könne, fragt daher auch Grandjean Ott.

Ganz am Schluss, als dieser im doppelten Wortsinn artifiziell anmutende Fall gelöst ist und sie beide am Ufer des Zürisees stehen, da gibt Grandjean Ott ein zusammengefaltetes Schreiben. Was das sei, fragt Ott. „Meine Beurteilung? Was hast du geschrieben?“

„Die Wahrheit“ erwidert Grandjean trocken. Dann geht sie am Ufer entlang und entfernt sich. Ott, die das Bewertungsschreiben über sich liest, ruft ihr darauf laut nach: „Ziemlich viel Pathos!“ Und Grandjean lächelt.

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