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Quotenhündin.  Hoonah konnte nichts dafür, dass sie im Freitagsfilm der ARD als Therapiehündin Käthe alle Fellstreichler vor den Fernseher ziehen sollte.

© ARD Degeto/Britta Krehl

Schluss mit Schlicht-TV: Unmut beim Fernsehschauen, Un-Mut beim Fernsehmachen

Therapiehund im Ersten, Mord im Zweiten, Schlager mit Andy Borg im Dritten - und Netflix zeigt "Unbelievable". Plädoyer für ein Fernsehen mit Mut

Mail von meiner Produzentin: Unbedingt „Unbelievable“ anschauen, Weltklasse, genau die Richtung, in die wir mit meinem Drehbuch wollen. Das ist im Fernseh- wie im Buchgeschäft normal, man sucht nach Visualisier- und Vergleichbarem, um eine Vorstellung zu bekommen, wie das kaum angedachte Werk einmal aussehen könnte.

„Unbelievable“ also, ich muss sowieso mit der Bahn von Berlin nach Regensburg fahren – fünf Stunden! Wie bitte?, aber das ist ein anderes Thema, und während der schnittige ICE mit der Geschwindigkeit eines anfahrenden VW Polo 86c in den Kasseler Bergen Richtung Südwesten zuckelt, alle drei Minuten der Stream abbricht, weil ich naiver Schneehase doch tatsächlich glaubte, man hätte Wifi im Zug – Wifi im Zug! Muhaha!, anderes Thema –, sehe ich häppchenweise eine Netflix-Serie, von der ich nach der ersten Folge hundertprozentig überzeugt bin, dass das lineare deutsche Fernsehen genau dort nicht hinwill.

Ich sehe vierzig Minuten lang die Geschichte eines jungen, nicht sehr attraktiven und auch nicht sonderlich sympathischen Mädchens, das vergewaltigt wurde und, nachdem es sich vor den ermittelnden Polizisten in hilflose Widersprüche verwickelt hat, schließlich bekennt, dass alles nur erfunden war. Trotzdem bleibe ich dran. Da dieses Zuschauen erst verwirrt, dann verärgert, dann packt und dann einfach nur noch großartig ist.

In den ersten fünf Minuten muss alles klar sein

Vierzig Minuten. Achtzig Ewigkeiten, wenn man die Aufmerksamkeitsspanne des gemeinen Homo sapiens zur Grundlage nimmt. Der deutsche Unterhaltungs-Fernsehfilm und, wenn wir es erweitern mögen, die meisten deutschen Serien dieser Richtung halten sich an eiserne Regeln. „Save the cat“ – in den ersten fünf Minuten muss klar sein, dass der Held ein Held und die Heldin eine taffe, aber sensible Frau ist, beide mit verstörenden Eigenschaften ausgestattet: Farben hören, Alkohol missbrauchen, schwierige Sexualität, schwerste Traumata, böse Krankheiten. Jede einzelne Eigenschaft genug für ein Drama in Richtung „Still Alice“, aber nicht genug für Montag-, Mittwoch- oder Samstagabendfilme im deutschen Fernsehen, denn damit fängt ja alles erst an, und mit diesem Rucksack marschieren sie im Stechschritt los in Richtung Einfühlung, Liebeswirren oder Ermittlung von Mord- und Totschlag.

Dagegen „Unbelievable“: Vierzig Minuten, das ist ein halber TV-Movie und eine ganze Serienepisode … nichts? Nur dabei zusehen, wie ein dummes, langweiliges Mädchen sich immer dümmer verhält? Ja. Denn man möchte es umarmen, schütteln, anschreien, trösten … und dann, in den letzten fünf Minuten: eine weitere Vergewaltigung.

Viele Kilometer entfernt. Dieses Mal ermittelt eine Frau. Und alles ist anders, befreiend, erlösend, welch ein Unterschied in den verschiedenen Ermittlungen, dass man gar nicht anders kann, als die zweite Episode zu sehen. Die dritte, die vierte, die fünfte bis zum Ausstieg in Regensburg.

Zusehen, wie ein Mädchen komplett versagt

Spätabends im Hotel noch eine Episode „Unbelievable“ geguckt und mich gefragt, warum die Fernsehredakteurinnen und -redakteure mich hierzulande vermutlich noch nicht mal ausreden lassen würden, wenn ich die erste Episode pitche. Weil es keine Konfrontation gibt. Keine Höhepunkte, keine Cliffhanger. Einfach nur diesem Mädchen dabei zusehen, wie es komplett versagt. Vierzig lange Minuten. Das ist nicht mehr zuzumuten. Allenfalls im Kleinen Fernsehspiel oder den Debütreihen nach Mitternacht. Die Quote, dieses matte Schwanzwedeln des Zuschauers, bestimmt die Dramaturgie des Hauptabends, und da muss es krachen.

Aber warum tut es das so selten? Wenn ich mich zum Couchsurfen in die Horizontale begebe, fühle ich mich im deutschen Fernsehprogramm wie an der Ostsee. Nicht so richtig Ebbe, nicht so richtig Flut. Es plätschert so dahin. Nachrichten, ein Krimi, eine Liebesgeschichte, eine Gameshow. Sport. Volksmusik. Die Dritten Programme flach wie der Strand vor Damp 2000. Ab und zu ein Leuchtturm des Erklärfernsehens – „Preis der Freiheit“, dem Mauerfall sei Dank –, ansonsten bescheren uns die Programme einen Therapiehund namens Käthe, Freitag, Erstes, Hauptsendezeit! Therapeut mit Hund (Käthe) kümmert sich um Mutter im Wachkoma (Wachkoma! Das hatten wir noch nicht!) und stolpert morgens über ein Findelkind, das ihm auch noch ähnlich sieht – zackzackzack, einsnachdemanderen, Therapeut, Hund (Käthe), Wachkoma, Findelkind, was noch?

Weiter zum Samstag. Wochenende. Muss doch besser sein. Im Ersten: „Frag doch Mal die Maus“. Schon der Titel verrät, welchen Grad an Reife und Vernunft man dem Beitragszahler unterstellt. Erzgebirgskrimi im Zweiten. Wilderer. Angeschossener Hund (nicht Käthe!). Toter im Stollen. Lithium. Nächste Tote. Zackzackzack. Fünf Minuten Exposition, erster Akt, zweiter Akt, point of no return, neunzig durchgetaktete Minuten. Prädikat: humorvoll.

Mit Andy Borg im Weinkeller

Die Privaten? „Schlag den Star“, „Hawaii Five-0“, „The Dark Knight Rises“, Recycling von 2012. Die Dritten? „Liebe hat Vorfahrt“, 2005. Schlager-Spaß mit Andy Borg im Weinkeller. Abenteuer Harz. Demnächst verhängen die Jugendrichter statt gemeinnütziger Arbeit dreißig Stunden drittes Fernsehprogramm.

Das ist auch in Ordnung. Das darf und soll es auch geben. Aber wo sind die Sendungen für Leute, die nicht zwischen Bergdoktor und dem sicher netten Andy Borg, zwischen Mäusebefragen und Therapiehundkraulen verdämmern wollen? Gibt es nicht auch für die einen Programmauftrag? Von Bildung will ich ja gar nicht erst anfangen.

Ich möchte ein aufregendes, heutiges Fernsehen. Mit Mut zur Zumutung, zum Erzählen, Überraschen. Ab und zu mal Atlantikluft statt Ostsee. Mit Serien wie „Unbelievable“, und bei allem, was mir heilig ist – diese Serie braucht keine Millionen. Keine Stars. Kein Zackzackzack, kein Einsnachdemanderen, sie braucht Menschen an den entscheidenden Stellen, die auch ungewöhnlichem Erzählen eine Chance geben. Was wäre dadurch verloren? Bestimmt kein einziger Beitragszahler. Und was gewonnen? Vielleicht die Zukunft des Fernsehens, das sonst gemeinsam mit Käthe im Wachkoma versinkt.

Elisabeth Herrmann ist Schriftstellerin und Drehbuchautorin. Sie lebt und schreibt in Berlin.

Elisabeth Herrmann

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