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Hat nichts mehr zu verlieren: Sabine Brenner (Luise Heyer).

© Christine Schröder/NDR

"Polizeiruf 110" aus Rostock: Das letzte Aufbäumen

Im ARD-Krimi aus Rostock greift eine verzweifelte Arbeiterin zur Waffe. Und das Kommissarsduo kämpft um seine Beziehung

Sabine Brenner sieht unendlich müde aus. Die tief eingefallenen Augen kann sie kaum offen halten, ihre Schultern hängen herab. Sie spricht so leise, als würde ihr jedes Wort größte Mühe bereiten. Zuhause hält sie sich eine Pistole unter das Kinn, drückt ab, aber noch liegen die Patronen nur auf dem Tisch. Sabine, die bestürzende Titelfigur der neuen Rostocker „Polizeiruf“-Folge, steht stellvertretend für die abgehängte Unterschicht, nicht nur im Osten. Luise Heyer spielt diese erschöpfte, gedemütigte und sich in einem letzten Akt gewaltsam aufbäumende Frau derart aufwühlend, dass der NDR am Ende des Films und im Netz auf Hilfsangebote für all diejenigen verweist, die ihre Situation ebenfalls für ausweglos halten.

Heyer bestätigt hier ihr Talent für Frauenfiguren in Not: 2019 erhielt sie für ihre Darstellung von Hape Kerkelings depressiver Mutter in „Der Junge muss an die frische Luft“ den Deutschen Filmpreis für die beste weibliche Nebenrolle. Und auch Charly Hübner und Anneke Kim Sarnau sind wieder ein Ermittler-Duo, das meilenweit von langweiliger Krimi-Routine entfernt ist. Im 24. Film der 2010 gestarteten Rostocker Reihe sind Kommissar Bukow und Profilerin König erstmals ein Paar. Noch tasten sich beide vorsichtig an die Frage heran, ob sie auch für eine feste Beziehung taugen.

[„Polizeiruf 110: Sabine", ARD, Sonntag, 20 Uhr 15]

So ist das erste Drittel der Folge „Sabine“ ein gegenläufiges Drama, das das Publikum mit einem Wechselbad der Gefühle auf die Eskalation vorbereitet: Hier das Glück des fragilen Neuanfangs bei König und Bukow, der sich zugleich von seinem in der letzten Folge getöteten Vater verabschiedet. Dort die Tragödie der alleinerziehenden Sabine, die alle Hoffnung verloren, aber noch eine Waffe aus alten DDR-Beständen hat. Die erste Leiche liegt nach 30 Minuten auf der Straße. Sabine erschießt den Nachbar, der immer wieder seine Frau schlägt. Es ist noch ein impulsiver Akt: Das Geschrei von nebenan störte Sabine beim sorgfältig geplanten Suizidversuch. Die Schüsse lösen bei ihr allerdings ein Gefühl der Befreiung aus. Das Publikum ist den Ermittlern von Anfang an voraus, was die kontinuierlich zunehmende Spannung nicht schmälert – im Gegenteil.

Halbschwester aus dem Hut gezaubert

Wie König ist man nur etwas konsterniert, dass nach 23 Folgen plötzlich eine Halbschwester von Bukow aus dem Hut gezaubert wird. Melly Böwe, gespielt von Hübners Ehefrau Lina Beckmann, taucht bei der Trauerfeier für den gemeinsamen Vater auf und weckt bei ihrem Halbbruder zurecht ein schlechtes Gewissen. Bukow, so scheint es, konnte schon als Kind rüde und rücksichtslos sein. Eher mittelprächtig gelingt auch die Inszenierung des Kampfs der Werftarbeiter gegen die Werksschließung. Da wird viel geschrien und aufgebracht verhandelt, was doch etwas plakativ nach antikapitalistischem Lehrstück schmeckt.

Allerdings wird Sabines persönliche Geschichte auf diese Weise in einen größeren Rahmen eingefügt. Investoren hatten die Werft gekauft und versprochen, niemandem zu kündigen, wenn die Belegschaft auf Gehalt verzichte. Nun ist der Zorn über die trotzdem drohende Schließung groß, was auch Betriebsrat Hannes (Alexander Hörbe) zu spüren bekommt. Sabine wiederum bekommt als Servicekraft einiges mit von den Verhandlungen hinter verschlossenen Türen. Auch dort wird sie für den Geschäftsführer nur sichtbar, wenn die Zitronenscheiben fürs Wasser nicht ordentlich geviertelt sind.

Verlust von Stolz und Würde

Florian Oeller (Drehbuch) und Stefan Schaller (Regie) erzählen eine bittere Geschichte über den Verlust von Stolz und Würde, der mit dem Verlust des Arbeitsplatzes einhergeht. Sabine, deren Mutter bereits auf der Werft schuftete, war dort als Elektrikerin beschäftigt. Seit der Kündigung ging es bergab. Nach zwei Umschulungen will die Arbeitsagentur eine dritte nicht mehr finanzieren. Der Alleinerziehenden reichen die Einkünfte aus zwei schlecht bezahlten Jobs nicht mehr.

„In meiner Wahrnehmung gibt es einen großen Teil unserer Bevölkerung, der zu wenig Aufmerksamkeit in unserem Medium bekommt: die Arbeiterschicht. Und innerhalb dieser Schicht gibt es noch mal eine Gruppe, die medial nur dann auftaucht, wenn beispielsweise Krankenpflegerinnen um mehr Geld betteln müssen dafür, dass sie uns in der Coronakrise den Hals retten: die Arbeiterinnen“, sagt Autor Oeller. Die von ihm erdachte und von Luise Heyer mitreißend verkörperte Sabine wird jedenfalls in Erinnerung bleiben.

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