zum Hauptinhalt
Gestehen Sie! Sylvester Groth und Nina Hoss (Foto) übernehmen zusammen mit Peter Kurth und Christian Berkel den deutschen Part des paneuropäischen Serienprojekts.

© Netflix

Netflix-Serie mit Nina Hoss: Hinter den Spiegeln

Vier Länder, ein Raum: Die Serie „Criminal“ als starbesetzter Verhörkrimi. Wenn da nur nicht manch' deutsche Unart wäre.

Peter Kurth ist in jeder Rolle sensationell. Das galt 2015 für seinen abgehalfterten Preisboxer „Herbert“, für den Kommissar Seidel im Frankfurter „Tatort“, erst recht für den Sittenbullen Wolter in „Babylon Berlin“ und ganz besonders in der Netflix-Serie „Criminal“.

Darin ist Kurth als Kölner Wendegewinner Jochen Müller zu sehen, der die erste seiner wachsenden Zahl ostdeutscher Immobilien 1991 von einem Handwerker renovieren ließ, dessen Leiche 28 Jahre später im Keller ausgegraben wurde.

Als Zeuge geladen, entpuppt sich die Befragung durch den Kommissar Schulz (Sylvester Groth) und seine hochschwangere Kollegin Keller (Eva Meckbach) zusehends als Verhör, in dem die drei das Katz-und-Maus-Spiel mit distanzierter Hingabe zu einem Kammerspiel der Extraklasse machen. Eines, das ganz nebenbei die geschlechterbedingte Ungleichbehandlung bürokratischer Gefüge und männliche Profilneurosen verhandelt.

Grandioses Serienkino dank grandioser Darsteller – so könnte man bereits beim ersten von insgesamt zwölf abgeschlossenen Verhören verschiedenster Verdächtiger meinen, die ab Freitag beiNetflix freigeschaltet sind.

Wäre die eigentliche Hauptfigur nicht jemand, besser: etwas völlig anderes. Im Zentrum der Geschichte stehen weniger die Menschen als ihr Drehort: ein holzvertäfelter Sichtbetonraum mit Tisch und Stühlen, an dem die meisten der 40 Minuten pro Folge spielen, während sich der kleine Rest auf dem kargen Hausflur oder jenseits einer halbverspiegelten Glasscheibe ereignet, vor der zwei weitere Polizisten das Befragungsgeschehen analysieren.

Schon diese Reduktion aufs Wesentliche wäre im Umfeld ansteigender Erregungskurven der Unterhaltungsbranche der Rede wert – würde sie nicht zusätzlich länderübergreifend erfolgen. In exakt derselben Kulisse ermitteln jeweils drei Episoden lang auch Kommissare aus Frankreich, Spanien und England, die das gleiche Vernehmungsszenario mit anderem Personal eigener Kriminalfälle durchexerzieren.

Bemerkenswertes Experiment

Vier Nationen, vier Sprachen, vier Ensembles aus vier Filmkulturen, verteilt auf einen Ort, an dem sich abgesehen von der jeweiligen Mode allenfalls die Füllung der Pappbecher und Snackautomaten unterscheidet. Es ist ein bemerkenswertes Experiment, das die britischen Showrunner George Kay und Jim Field Smith hier vornehmen.

Eines, das regionale TV-Perspektiven wie in einer klinischen Studie sichtbar macht. Während Oliver Hirschbiegels Version nach Büchern von Bernd Lange und Sebastian Heeg trotz ihrer schauspielerischen Brillanz an der deutschen Unart klischeehafter Charakterzeichnungen im Duell permanenter Schlagfertigkeit leidet, schaffen es die Serienmacher in der englischen Version, den ungemein authentischen David Tennant („Broadchurch“) Sekunde für Sekunde spürbarer am Sexualmord an seiner minderjährigen Tochter zerbrechen zu lassen.

Schwer zu sagen, ob dieser Naturalismus nun fester Bestandteil anglogermanischer Fiktionen ist oder nur im direkten Vergleich mit den deutschsprachigen deutlich wird. Es fällt auf, dass auch die zwei anderen Filmkulturkreise ein organischeres Aroma verströmen. Im spanischen (Regie: Marian Barroso) glänzt Carmen Machi als Zeugin, deren fanatische Hundeliebe unfreiwillig mithilft, die Polizei zu ihrem untergetauchten Bruder zu führen.

Was beim Theaterstar bis tief ins Melodramatische theatralisch wirkt, spiegelt eine Art lokales Temperament im Sog merkwürdiger Umstände wieder, das sich auch in der französischen Fassung findet. Mit welch würdevollem Trotz das vermeintliche Terroropfer Émilie (Sara Giraudeau) unter der Regie von Frédéric Mermoud von der Vernommenen zur Mittäterin des Anschlags auf das Bataclan wird, soll gerade Schauspielerinnen links vom Rhein ja öfter mal zu eigen sein.

So, wie eine Kulisse für alle die atmosphärischen Unterschiede verstärkt, werden sie von ihr auch gleich wieder absorbiert. Im Kern der viermal dreiteiligen Anthology-Serie werden die Darsteller so aufs Wesentliche einer undekorierten Bühnensituation zurückgeworfen. Das macht „Criminal“ zu einer der eindrücklichsten Krimiformate unserer krimigesättigten Fernsehepoche. Und Peter Kurth und Nina Hoss spielen eben auch mit. Besser geht’s kaum.

Jan Freitag

Zur Startseite