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Blass, aber sehr konzentriert. Der beste Freund des Klischee-Nerds ist sein Computer.

© picture-alliance/Picture Press/W

Nerds: Verpeilt wird sexy

„Genialer Sonderling“ – so nannte man sie früher. Heute heißen sie „Nerds“ und erobern die Welt. Phänomenologie einer seltsamen Spezies von der Antike bis heute. Mit Selbsttest.

Der Begriff hört sich ziemlich unsexy an: „Nerd“, sprich: „Nöhrd“. Dennoch gibt es kaum einen anderen Begriff, der so nachhaltig die deutsche Sprache stürmt. Und es gibt auch kaum einen Menschenschlag, der aktuell für so viel Furore sorgt wie die Nerds. In Gestalt der Piraten haben sie nicht nur das erste deutsche Landesparlament geentert, sondern auch Alltag und Medien. Immer öfter sieht man Menschen, die ihre formschwachen Kapuzen-Pullis und Strubbelfrisuren ebenso selbstbewusst präsentieren wie ihre funktionsstarken Notebooks. Der Tod von Apple-Gründer Steve Jobs wird ähnlich stark betrauert wie der von Michael Jackson, man lacht gern über die verschraubten Nachwuchsphysiker in der TV-Serie „Big Bang Theory“ und wundert sich kaum noch, wenn Tagesschau-Sprecher Marc Bator mit übergroßer Nerd-Brille in die Kamera lächelt. Heute feiert die weltweit vernetzte Gemeinschaft der Nerds am 25. Mai alljährlich den „Geek-Pride-Day“ („Geek“ ist speziell in den USA ein gebräuchlicher Begriff für die Nerds), angelehnt an den Christopher-Street-Day der Schwulenbewegung. Begründet wurde der Gedenktag 2006 in Spanien. Das Credo: „Wir sind rettungslose Nerds – und wir sind stolz darauf.“ Nerd-Sein wird gesellschaftsfähig. Dabei wurde der Begriff noch vor zehn Jahren als Schimpfwort für trottelig- lebensuntüchtige Spinner verwendet.

Dass sich die Bedeutung des Begriffs rasch wandelt, ist nicht verwunderlich, liegt doch schon der Ursprung im Dunkeln. 1950 veröffentlichte der US-amerikanische Cartoonist Theodor Seuss Geisel zwar ein Buch, in dem er von seiner Reise die Fantasiegestalten „a Nerkle, a Nerd and a Seersucker“ für seinen imaginären Zoo mitbringen wollte. Aber inhaltlich füllte er das neue Wort nicht, dies machte erst ein Jahr später die Newsweek. Die amerikanische Zeitschrift verwendete den Begriff Nerd als Synonym für einen langweiligen Spießer, was aber seinem Wesen nach heutigem Verständnis nicht wirklich nahekommt.

Andere Ursprungstheorien besagen, dass Nerd ursprünglich „knurd“ geschrieben wurde, die Umkehrform von „drunk“ (betrunken). Der Begriff soll sich auf College-Studenten bezogen haben, die sich lieber ihren Studien widmeten, anstatt zu feiern. Später soll dann aus „knurd“ der phonetisch ähnliche Nerd geworden sein. Überzeugender klingt die Theorie, wonach der Begriff eine Abkürzung von Northern Electric Research and Development (heute Nortel Networks) gewesen sei. Die Angestellten des Unternehmens – man darf sie sich mit dicken Brillen und einem Phasenprüfer in der Brusttasche vorstellen – sollen demnach das Kürzel N.E.R.D auf ihren Monturen getragen haben, und im Laufe der Zeit sind die in technischer Hinsicht patenten Jungs eben geradezu sprichwörtlich geworden.

Eine kopflastige Intelligenz - zu Lasten der Körperlichkeit

Für die letzte Theorie spricht, dass der logik- und technikaffine Wesenszug bis heute das Verständnis vom Nerd prägt. Außerdem ist er hochbegabt und derart auf sein Lieblingsthema fokussiert, dass ihm niemand folgen will – oder auch einfach nicht folgen kann. Zudem wirkt der Nerd oft weltfremd, ungelenk und sozial inkompetent, was aber nicht heißen soll, dass er dem Globus nicht seinen Stempel aufdrücken könnte. Man denke nur an Bill Gates oder Mark Zuckerberg. Der eine wippt beim angestrengten Nachdenken mit dem Oberkörper hin und her, während der andere auf Konferenzen gern klassische, aber unpassende Zitate einstreut. Ohne ihre Produkte Windows und Facebook aber wäre die Welt heute unvorstellbar.

Was die Frage aufwirft, ob der Nerd ein typisches Phänomen unseres Internet- und Computer-Zeitalters ist. Medienwissenschaftler Mathias Mertens von der Universität Hildesheim antwortet darauf mit einem klaren Nein: „Es hat in der Menschheitsgeschichte schon immer Nerds gegeben, so wie es zu allen Zeiten auch Dandys und Yuppies gegeben hat.“

Vermutlich begann die Geschichte des Nerds, als sich der Homo sapiens von seinem primitiven, auf den bloßen Lebens- und Arterhalt abzielenden Jäger- und Sammlerdasein verabschiedete und den verpeilteren Mitgliedern in seinen Reihen Raum für ihre Spinnereien ließ. Eine ergiebige Epoche der Nerds war die griechische Antike, deren Bürger die Zeit fanden, um sich mit Philosophie, Mathematik und anderen Überflüssigkeiten zu beschäftigen. Man denke an Thales, der beim philosophischen Spaziergang in den Brunnen fiel oder an Archimedes, der dem anstürmenden Soldaten ein trotziges „Störe meine Kreise nicht“ entgegen schleuderte. Beide zeigen typische Merkmale des Nerds: Tolpatschigkeit und die Unbeugsamkeit gegenüber Autoritäten. Der Nerd ist ein Bewegungsidiot, der sich von niemandem aufzwingen lässt, wohin er sich zu bewegen hat, dazu besitzt er zu viel selbstständige Intelligenz.

Es ist allerdings eine kopflastige Intelligenz, zu Lasten der Körperlichkeit. Zwar wächst allmählich der Frauenanteil unter den traditionell überwiegend männlichen Nerds, aber Sex spielt unter ihnen immer noch keine tragende Rolle. Thales antwortete auf die Frage, warum er sich keine Frau suche, zunächst: „Es ist noch zu früh dazu“, und dann, im fortgeschritten Alter: „Jetzt ist es zu spät dafür.“ An der sexuellen Unbedarftheit der Nerds hat sich bis heute nicht viel geändert, was natürlich auch oft daran liegt, dass sie körperlich unattraktiv sind. Und wenn sie einmal einen Deckel für ihren vergeistigten Topf finden, geschieht das eher aus Zufall. Linux-Gründer Linus Thorvalds etwa lernte seine Gattin, eine Kampfsportlerin, im Internet kennen: „Ich heiratete die erste Frau, die mich elektronisch aufriss.“ Mark Zuckerbergs Freundin berichtete über ihr erstes Treffen mit dem Facebook-Gründer: „Er war dieser nerdige Junge, der ein wenig neben sich stand.“ Die damit einhergehende Fortpflanzungsträgheit hat bislang verhindert, dass sich der Nerd zahlenmäßig als prägendes Modell der menschlichen Evolution durchsetzen konnte.

Der Autor ist Wissenschaftsjournalist und Sachbuchautor. Von ihm erschien zuletzt „Nerds. Wo eine Brille ist, ist auch ein Weg“, List, 14,99 Euro.

Jörg Zittlau

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