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Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zu Gast in der ARD-Talksendung "Anne Will".

© Wolfgang Borrs/NDR/dpa

Merkels Flucht in die Öffentlichkeit: Wenn nichts mehr hilft, hilft vielleicht nur noch Anne Will

Wie die Kanzlerin in einer Fernsehstunde leider nicht hielt, was man als Zuschauer erhoffte und am Ende nur klar war, was auch vorher schon fast jeder wusste.

Es war nicht das erste Mal, dass Angela Merkel in einer politischen Krise den Ausweg in einer kalkulierten Flucht in die Öffentlichkeit zu suchen schien. Eine kontrollierte Öffentlichkeit, wohlgemerkt, in der es keine widerlichen Pöbler am Straßenrand gab, aber dennoch kein unkritisches Publikum.

Eine Stunde bei Anne Will, das kann für die Bundeskanzlerin eine Chance sein, ein ratloses und an der Kanzlerin zweifelndes, hochpolitisches Publikum davon zu überzeugen, dass man dieser Frau an der Spitze der Regierung noch trauen darf.

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Bereits in einer anderen Krise, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingsbewegung der zweiten Jahreshälfte 2015, hat sich Angela Merkel dieser Demaskierung unter zivilisierten Bedingungen gestellt.

Das war am 28. Februar 2016, knapp zwei Monate nach den skandalösen Vorfällen der Silvesternacht auf der Kölner Domplatte, als sich alle Welt fragte, wie die Kanzlerin ihre Flüchtlingspolitik überhaupt noch offensiv verteidigen könne.

Diesmal wird der Jubelsturm ausbleiben

Damals sagte sie auf Anne Wills Frage, was eigentlich passieren müsse, damit sie ihren Kurs ändert, nur knapp: „Nichts“. Die unmittelbaren Publikumsreaktionen, nachzulesen auf Twitter, waren damals weit überwiegend von Respekt vor der Geradlinigkeit Merkls getragen. Die Prognose: Diesmal, nach dem gestrigen Abend, wird es im Netz keinen Jubelsturm geben.

Heute geht es um eine Pandemie, der gegenüber die Bundesregierung ein geradezu verzweifelnd schwaches Bild bietet, in der die Menschen Angst vor der nächsten Virusmutation haben, und wütend fordern, endlich geimpft zu werden.

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Und es geht um eine die Kanzlerin tragende Doppel-C-Partei, deren Glaubwürdigkeit und Integrität von korrumpierten und schamlosen Abgeordneten untergraben wird.

Noch bevor die Gier mehrerer Unionsabgeordneter publik wurde, am 25. Februar, sagte Merkel der FAZ in einem Interview auf die Frage, ob sie bei ihrer Aussage bleibe, dass sie in der Impfkampagne keine großen Fehler gemacht habe, knapp und von keinem Zweifel angekränkelt: „Ja, ich bleibe dabei“.

Und gestern Abend?

Wieder „bleibt sie dabei“, bei dem, was sie schon immer sagte. Wieder hörte man, dass die EU bei der Bestellung der Impfstoffe keine grundsätzlichen Fehler gemacht habe – da ist die Bundeskanzlerin vermutlich der letzte Mensch in Deutschland, der diese These vertritt. Kritik gibt es von ihr, ja, aber nicht an sich.

Warum ist die Kanzlerin eigentlich gekommen?

Zum Beispiel an den Ländern, die sich nicht an die vereinbarte Inzidenzgrenze von 100 Fällen pro 100.000 Einwohner halten – von der an sollten nach der Vereinbarung vom vergangenen Monat wieder die Freizügigkeit der Bürgerinnen und Bürger eingeschränkt werden. „Testen und Bummeln“ im Berliner Stil, das findet sie nicht gut.

Überhaupt kritisiert sie alles in der Politik, das den erkennbaren Ernst der Situation in der anschwellenden dritten Welle der Pandemie nicht begreifen will. „Das Virus lässt nicht mit sich verhandeln“, sagt sie, nicht zum ersten Mal, und droht indirekt, der Bund könne über das Infektionsschutzgesetz die Länder zu umfassenderen Maßnahmen zwingen – um wenig später einzugestehen, dass im deutschen föderalen System nur Lösungen miteinander gefunden werden können – oder es gibt keine.

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Immerhin ist jetzt dem letzten klar, was auch vorher schon fast jeder wusste: Die Kanzlerin will rigorosere Maßnahmen, mehr und nicht weniger Lockdown.

Nach einer Stunde – wenn man dann als Zuschauer so lange ausgehalten hat, vermutlich werden die Quoten das Gegenteil belegen – nach einer Stunde also fragt sich der Beobachter: Warum ist die Kanzlerin eigentlich gekommen?

Beherrschbarkeit wird zur Gefühlsbremse

Anne Will hat ihr, höflich aber klar, wirklich jede Chance geboten, Leidenschaft und beschwörende Appelle zu zeigen – oder auch nur zu sagen, woran sie, die mächtigste Politikerin des Landes, wohl verzweifelt.

Aber die Beherrschtheit, die viele Menschen an der Bundeskanzlerin absolut zu Recht so schätzen, kann eben auch zur Gefühlsbremse werden, etwa, wenn sie über das Bund-Länder-Verhältnis wie über eine Gebrauchsanweisung zur Nutzung eines Haushaltsgerätes spricht.

Am Ende war dieser Abend mit Anne Will für die Kanzlerin allenfalls so etwas wie das Auftreten der deutschen Fußballmannschaft gestern Abend gegen Rumänien – ein Arbeitssieg. Für einen solchen Auftritt am Sonntagabend reicht das nicht.

Wer, wie Angela Merkel, die Chance vertut, in einer überaus kritischen Situation die öffentliche Meinung für sich zu gewinnen, hat einen Fehler gemacht, der ernster ist als der, die Übersicht über die Ladenöffnungszeiten um Ostern verloren zu haben.

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