zum Hauptinhalt

Katastrophe und Konsequenzen: „Schalt’ mal schnell auf CNN um“

„9/11“, die Macht der furchterregenden Bilder und die Herausforderung für die Medien heute. Ein Beitrag von RTL-Chefredakteur Peter Kloeppel, der damals siebeneinhalb Stunden lang im Studio moderierte.

Am Anfang waren die Bilder. „Schalt’ mal schnell auf CNN um – was sind denn das für Bilder?“ Nie werde ich diesen erschrockenen Ausruf einer Kollegin vergessen, als ich am Nachmittag des 11. September 2001 um etwa zehn vor drei in der Redaktion an meinem Schreibtisch saß und Moderationen schrieb. Der erste Fernsehblick auf die Bilder des qualmumhüllten Nordturms des World Trade Centers machte deutlich: Was auch immer in New York passiert war, diese Bilder würden uns noch lange begleiten. Und als wenige Minuten danach das zweite Flugzeug in den Südturm raste, sprengte dies jegliche Vorstellungskraft.

Die Macht dieser Bilder, das Gefühl des Ausgeliefertseins, der Hilflosigkeit gegenüber einem – ja, was war es eigentlich? – höheren Willen, der über die Macht verfügte, friedliche Flugzeuge zu tödlichen Waffen werden zu lassen und Menschen zu Maschinen, all das ließ alle Gewissheiten unserer bisherigen Lebenserfahrung einstürzen, so wie wenige Stunden danach auch das World Trade Center in einer riesigen Staub- und Aschewolke verschwand, tausende Menschen mit sich reißend.

Jeder von uns hat Erinnerungen an diesen Tag. Von wem haben wir es erfahren? Wen habe ich angerufen? Mit wem saß ich zusammen vor dem Fernseher? Was dachte ich beim Einsturz der Türme? Welche Ängste bemächtigten sich meiner? Und immer wieder diese unfassbaren Bilder, die Teil der Ikonografie unseres Zeitalters wurden.

Nach dem 11. September habe ich mich bewusst davor gedrückt, unsere siebeneinhalb Stunden Live-Sendung in voller Länge anzusehen. Ich wollte es nicht, oder besser: konnte es nicht. Der Mensch, der dort mit vor Konzentration, Aufregung und Fassungslosigkeit immer wieder bebender Stimme das furchterregende Geschehen kommentiert, ist mir vertraut und gleichzeitig zutiefst fremd. Noch heute empfinde ich es als körperlich unangenehm, meine Angst wahrzunehmen vor dem Unbekannten, vor dem, was noch passieren mag, wenn all das Gesehene schon so monströs ist.

Ich war zehn Jahre alt, als ich das erste Mal in meinem Leben das Gefühl hatte, an etwas Großem, Weltumspannendem teilzuhaben. Einem Ereignis, das erst durch das Fernsehen so richtig bedeutend wurde. In eine Wolldecke gehüllt, saß ich tief in der Nacht mit meinem Vater vor dem Fernseher. Die schemenhaften Bilder, die von der Mondoberfläche in unser Wohnzimmer gefunkt wurden, blieben schwarz-weiß und unscharf. Wir verstanden auch nur wenig von den Funksprüchen, die zwischen Houston und dem Meer der Stille 380 000 Kilometer entfernt hin- und herjagten, dazwischen immer dieses Nasa-Funk-Piepsen, umso gebannter lauschten wir den Kommentaren der Männer im Kölner ARD-Studio. So wurden nicht nur Neil Armstrong und Buzz Aldrin unsere Helden dieser Nacht, sondern auch Günter Siefarth, Lothar Loewe und ihr Kollege Werner Büdeler in Houston, die mit unerschütterlicher Ruhe Stunde um Stunde kommentierten.

Ich bewunderte diese Fernsehmänner zutiefst: Auf alles wussten sie eine Antwort, sie blieben ruhig auch in den kritischsten Momenten, selbst bei einem katastrophalen Scheitern der Apollo-Mission hätten sie die richtigen Worte gefunden, um uns die Sprachlosigkeit zu nehmen.

Die Welt, so viel war mir in diesem Moment klar, rückt nicht so sehr zusammen durch die Summe ihrer Einzelerfahrungen, so bedeutend diese auch für jeden Einzelnen sein mögen, sondern durch das gemeinsame Erleben solitärer Ereignisse. Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, der Mord an John F. Kennedy, der Absturz des Space-Shuttles „Challenger“, der Fall der Mauer, all das erschütterte die Menschen. Manches erfuhr man mit Verzögerung, anderes ziemlich schnell, aber nur am 11. September 2001 hatte die ganze Welt das untrügerische Gefühl, der Regie eines großen Unbekannten live ausgeliefert zu sein – einer Realität am Bildschirm beizuwohnen, die fiktionalen Charakter zu haben schien, und den Beobachter trotzdem in jeder Sekunde anschrie: „Was du siehst, so unfassbar es auch ist, es geschieht. Jetzt!“

Mit jedem dieser Ereignisse wuchs die Intensität und Unmittelbarkeit der Bilder. Fernsehen, das ja oft zu Recht als Illusionsmaschine bezeichnet wird, wurde plötzlich zum Wirklichkeitsgenerator – die Einschläge der Flugzeuge, die schwarzen Qualmfahnen, die Staubpilze der einstürzenden World-Trade-Center-Türme, das Feuer im Pentagon, die Angstschreie der Menschen, all das entfaltete nicht nur zweidimensional in Bildpunkte aufgelöst vor den Augen der Betrachter seinen Horror, es fraß sich in die Köpfe und das kollektive Erlebensgedächtnis wie ein Tumor in gesundes Gewebe.

Der 11. September hat die Sucht von Fernsehjournalisten nach Bildern verstärkt. Amerikanische TV-Reporter versuchten im sich anschließenden Irakkrieg, mit ihren Kameras und transportablen Übertragungsgeräten noch näher dran zu sein am Geschehen. Sie mutierten sogar – befeuert von einem schwer erträglichen Hurra-Patriotismus selbst der seriösen US-Presse – zu Protagonisten auf dem Schlachtfeld. Erzkonservative US-Moderatoren wie Bill O’Reilly, Glenn Beck oder Sean Hannity spielten sich zu Regisseuren im selbst erklärten Krieg gegen den Terrorismus auf. Sie hatten die Macht über Worte und Bilder, und damit die Macht über die Köpfe. Doch die Handy-Videos der arabischen Revolution und ihre rasend schnelle Verbreitung zeigen uns, wohin der Weg geht: Geschichte wird noch unmittelbarer, Verbrechen können schneller als solche identifiziert und gebrandmarkt werden, die Hoffnung auf Wahrhaftigkeit steigt.

Es wächst aber auch die Herausforderung für die Vermittler: Medien und Mediatoren sind in ihrer Unabhängigkeit und Urteilsfähigkeit so gefordert wie nie zuvor. Sie dürfen nicht kapitulieren vor dem vermeintlich Offenkundigen, und erst recht nicht vor denen, die im Hintergrund Regie führen. Ob sie nun in einer Höhle in Afghanistan sitzen oder in einem Regierungsbunker.

Peter Kloeppel ist seit 2004 RTL-Chefredakteur und seit 1992 Chefmoderator von „RTL Aktuell“. Von 1990 bis 1992 arbeitete er als RTL-Korrespondent in den USA mit Sitz in New York.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false