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Men at work. Daniel Boschmann (links) ist der Modernisierungsfaktor in der Spielshow „Geh aufs Ganze!“, Zonk und Moderator Jörg Draeger sind ganz die Alten. Foto:

© dpa

Jörg Draeger, ein Showmaster aus Berlin: Ein Mann geht aufs Ganze

Mit Schnäuz, Charme und Zaubersakko surft Jörg Draeger auf der Retrowelle des Fernsehens.

Der Schnäuzer, jungen Bewohnern hipper Großstadtviertel ist das eventuell unbekannt, wurde einst völlig ironiefrei getragen. Im Grunde war er ja noch nicht mal ein Statement, es gab ihn einfach. Millionenfach. Zwischen Nase und Mund geschlechtsreifer Kerle. Männer wie Jörg Draeger. Für Außerirdische, Kinder, Eremiten: So heißt ein Moderator, der vor 29 Jahren trotz oder wegen seines Oberlippenbartes zum prägenden Gesicht des Privatfernsehens avancierte.

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Als Sat1 noch ein Sender von Belang war, den die Kritik dank seiner Nähe zu Helmut Kohl naserümpfend „Kanzler-Kanal“ schimpfte, präsentierte am 2. Januar 1992 Jörg Draeger erstmals die schlichte, aber schnell beliebte Zockershow „Geh aufs Ganze!“. Mit dem Berliner als Zentralgestirn wurde sie für Nachmittagsverhältnisse ein Straßenfeger – und in 2092 von 2179 Ausgaben stets dabei: sein Schnäuzer. Unverwüstlich. Bis heute.

Denn als Draeger vor 14 Tagen nach fast 20 Jahren Sendepause die Showtreppe hinunter ins Rampenlicht trat, war sein Gesicht zwar faltiger, der Anzug schmaler, das Studio greller. Doch als sein Bühnenpartner Daniel Boschmann die „Legende“ als „The Lord of Zock“ mit „dem Zaubersakko“ pries, war dessen Kopfbehaarung bis hoch zur kastanienbraunen Fönwelle doch eher späte Siebziger als frühe Zehner. Irgendwie alterslos, zumindest gut gereift. Alles wie immer also? Alles gut, wie man heute so fragt?

[„Geh aufs Ganze!“, Sat 1, Freitag um 20 Uhr 15]

Nach mehr oder minder öden Revivals von „Ruck Zuck“ übers „Familienduell“ bis hin zum „Glücksrad“ haben „Wetten, dass..?“ oder „TVtotal“ gerade bewiesen, dass Neuauflagen alter Quotenhits gelegentlich funktionieren. Und so funktionierte auch „Geh aufs Ganze!“, zumindest quantitativ. Erstaunliche 2,5 Millionen Zuschauer sahen am letzten Novemberfreitag zu, wie Draeger sein Studiopublikum statt wie einst vorm Abendbrot 30 Minuten nun drei Mal so lang zur Primetime um Bares und Teures, Bügeleisen und Luxusreisen, Gewinne oder den wertlosen Zonk zocken ließ.

Während die automobilen Hauptpreise 2021 Elektroantriebe haben und Tausende Euros statt Mark kosten, bleibt das Prinzip trotz Quotenminus der zweiten Folge also nicht nur zugkräftig, sondern baugleich: Nach einer Kindheit in Spanien plus Germanistikstudium in Berlin führt der Bundeswehr-Major a. D. seine Kandidaten dank Tricks wie bündelweise Geld in der Jacketttasche charmant aufs Glatteis. „Wer zockt, kann verlieren“, erklärt er dieser Zeitung ein TV-Spiel, das Draeger als Kunst begreift, Pleiten wie Siege erscheinen zu lassen und Siege wie Triumphe.

Prinzip: gesittete Abendunterhaltung

So lautet ein zeitloses Prinzip gesitteter Abendunterhaltung, das sogar dem misanthropischen Zynismus von Schmidt & Pocher standhalten konnte. Andererseits entsprang es dem Zeitgeist einer kurzen Phase kollektiver Sorglosigkeit zwischen Mauerfall und 9/11. Immerhin, die Hostessen sind abgeschafft worden. Wie die einst mit devoter Geste Koffersets präsentierten, fand ja nicht nur der Chef so unzeitgemäß, dass dafür nun Sidekick Boschmann zuständig ist – als Good Cop des Bad Cops Draeger ohnehin ein „Modernisierungsfaktor“, der seinem doppelt so alten Chef „bei aller Nostalgie“ wichtig sei.

Nostalgie mag schließlich eine Leitwährung des Entertainments sein. Weil sich dessen Rad nur noch schwer neu erfinden lässt, gewinnen allerdings die Fernseharchivare weiter an Bedeutung. Ihr Betriebsgeheimnis: Innovation ohne Revolution.

Damit hat Sat1 „das Unprofessionelle, fast Anarchistische“ an „Geh aufs Ganze!“ laut Draeger entstaubt, ohne es zu entsorgen. „Früher sei alles besser gewesen, hat noch nie gestimmt“, betont der 76-Jährige mit dem liberalen Feuer von Buschmanns Alterskohorte im Herzen, „aber unser Gehirn schaltet am Früher gern die negativen Aspekte aus und besinnt sich auf die positiven.“

LED-Walhalla

In diesem Fall „das Nostalgische erhalten, aber dem Zeitgeist entsprechen“. Sein neues Studio nennt er demütig „LED-Walhalla“, das dem Sendeplatz angemessen sei. Die Gäste dagegen haben sich abseits von Farbe (Pastell) und Größe (XXL) ihrer Bekleidung kaum verändert. Wie damals gibt es Ulknudeln mit drolligem Hut. Wie damals nutzen sie Draegers Show für drei Minuten Berühmtheit. Wie damals ist das zum Fremdschämen amüsant. Denn wie damals wirken viele trotz langjährigen Crashkurses in Sachen Selbstoptimierung tapsig und steif, wenn sie der Spielleiter mit ironiefreiem Schnauzbart ins Risiko quatscht.

Ein Conférencier, der sein Saalpublikum respektiert, aber auch fordert. Ein Zocker, der auch privat gern ins Casino geht, selbst gegen seine Verwandtschaft gewinnen will und schon darum von „Geh aufs Ganze!“ nicht lassen mag. Noch. Wie Johannes Heesters, „der auf die Bühne geschoben wird“, will Jörg Draeger „im Grenzalter des Showgeschäfts“ nämlich nicht enden.

Weitere Staffel 2022

„Irgendwann muss Schluss sein“, sagt er lachend und hofft, Kinder und Kindeskinder geben ihm Bescheid, „wenn es so weit ist“. Zwei Folgen seiner neuen alten Spielshow zeigen jedoch: Ein bisschen Zeit dürfen sie ihm gerne noch lassen. Und Sat1 lässt sie ihm. Am Donnerstag kündigte der Privtsender eine weitere Staffel für 2022 an.

Jan Freitag

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