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Und draußen zieht das Leben vorbei. Onlinegames ziehen den Nutzer in ihren Bann - das Gefühl für Zeit geht dabei völlig verloren.

© dpa

Internetsucht: "Ich habe mit meinem Leben kein Problem"

Seit fünf Jahren lebt Christian M. sein Leben im Internet - acht bis elf Stunden pro Tag spielt er Online-Rollenspiele. Den Weg zurück in die Realität sucht er nicht.

Christian M. glaubt, mit seiner Sucht gut zu leben. „Solange ich meine Termine einhalte und niemanden störe, ist doch alles in Ordnung“, sagt der 27-Jährige. Als Krieger ist er acht bis elf Stunden täglich im Online-Rollenspiel „World of Warcraft“ unterwegs. Dort taucht er ein in die Fantasiewelt „Azeroth“, ist mit Rittern, Magiern und Orks unterwegs, zieht durch Dörfer und Städte, fliegt auf Flugtieren über Wälder und kämpft gegen andere Charaktere. Das tut er immer ab dem Nachmittag. Vorher arbeitet er bei einem Sicherheitsdienst, mehr wollte er in der realen Welt auch nie erreichen, sagt er. Am Spiel reizt ihn die Mechanik, und dass er schnell reagieren muss. „In Japan und China werden Menschen wie ich für ihre Spielfertigkeit gefeiert“, sagt Christian stolz.

24 Stunden ohne Computer, ohne Blick ins Netz: keine Mails abrufen, nicht chatten oder sein Facebook-Profil aufrufen. Internet- oder Onlinesucht ist der zwanghafte Drang, sich dauernd im Internet bewegen zu müssen. Süchtige integrieren es nicht in ihr Leben, sondern ihr Leben ins Netz. Die Sucht wird zunehmend zum Problem, warnte kürzlich die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Mechthild Dyckmans. Eine Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit ergab, dass rund 56 0000 Menschen in Deutschland internetabhängig sind. Weitere 2,5 Millionen Nutzer pflegen einen problematischen Umgang, sind demnach suchtgefährdet. Bei der Studie handelt es sich um die erste repräsentative Untersuchung über das noch wenig erforschte Phänomen in Deutschland. Etwa 15 000 Menschen zwischen 14 bis 64 Jahren wurden befragt. Betroffen sind vor allem junge Menschen wie Christian.

Online spielt Christian seit fünf Jahren – davor vergnügte er sich offline mit Videospielen. Das wenige Tageslicht und die langen Nächte haben Christian blass gemacht. Es klingt nach Klischee, doch Christian sieht fertig aus. Seine Haut wirkt faserig, fast dünn. Er ist klein, etwas pummelig, trägt Pulli und Jeans. Christian hat keine Freundin oder wirklichen Freunde, nur „feste Kontakte“, wie er seine Bekannten nennt. Die treffe er manchmal in einer Shisha-Bar, wenn er sich aufraffen könne, rauszugehen, sagt der 27-Jährige. „Doch ich muss ehrlich zugeben, dass ich schon immer ein Einzelgänger war.“

Christian weiß, dass er süchtig ist. Er erfüllt die typischen Kriterien eines Abhängigen. Er erkennt es, an der Panik, die aufkommt, wenn ein technisches Problem vorliegt – etwa der Router spinnt. Wenn er nicht spielen kann, ist er gereizt. „Ich werde nervös und hektisch und hantiere wild herum“, sagt der 27-Jährige. Früher habe er manchmal vergessen zu essen. Heute stelle er sich vorsorglich etwas an den Schreibtisch – vor allem zu trinken. „Das habe ich gelernt“, sagt Christian. Und dass er zum Glück immer seine Ersatzdroge parat habe: sein Smartphone. Darauf spielt er Spiele per „TeamSpeak“ mit Headset auf dem Kopf. Wenn Christian länger unterwegs ist, ist sein Laptop samt UMTS-Stick sein stetiger Begleiter.

Warum Christian dauernd online sein will, weiß er nicht genau. Das ist ihm aber auch egal. „Ich habe mit meinem Leben kein Problem“, sagt der Darmstädter. Experten würden sagen, dass er mit seiner Sucht innere Bedürfnisse kompensiert: spannende Abenteuer erleben, Gefahren und Ängste überwinden, Vorbilder haben und diesen nacheifern. Dass er Leistungen erbringen möchte, auf die er stolz sein kann. Oder, dass er das Gefühl haben möchte, gute und richtige Entscheidungen zu treffen und seine Ziele zu erreichen. Vielleicht aber befriedigt er im Netz auch seine Bedürfnisse nach klaren und verlässlichen Strukturen. Wie es genau tief in ihm aussieht, ist Christian egal. „Ich habe mit meinem Leben kein Problem“, sagt der Darmstädter. Allein fühle er sich nicht, wenn er online sei. „Nach so langer Zeit kennst du die anderen Mitspieler und deren Charaktere. Manchmal kommt es vor, dass wir uns auch privat austauschen“, sagt Christian. Das sei so, wie andere auf Facebook oder Studi VZ ihre Freunde hätten. Ganz normal eben.

Einen Selbsttest zum Thema Onlinesucht finden Sie unter www.online-und-computersucht.de/selbsttest.

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