zum Hauptinhalt
Moderatorin Lilli Gruber und Italien Ex-Premier Matteo Renzi

© picture alliance / dpa

Info-Formate in Europa: Titel, Thesen, Temperamente

Von „66 minutes“ bis „Propaganda Live“: Immer mehr Infoformate bei europäischen Privatsendern machen den Platzhirschen Konkurrenz. Ein Überblick.

Neue News-Formate, Kanzlerkandidateninterviews, „Tagesschau“-Prominenz“, die zu Privatsendern wechselt – RTL & Co. haben in Deutschland eine Art Informationsoffensive angestoßen. Wie sieht es in anderen europäischen Ländern mit Info-Formaten und Sendern aus?

Ein Blick nach Frankreich zeigt ebenfalls eine Entwicklung der Newsformate bei Privatsendern. Dort investiert das Privatfernsehen seit Jahrzehnten in Informations- und Politikformate. France Télévision heißt der staatliche Fernsehsender in Frankreich, dazu gehören unter anderem der nationale Kanal France 2, aber auch die regionalen Sender von France 3 und der Dokusender France 5. Es ist die größte audiovisuelle Gruppe mit den meisten Zuschauern in Frankreich und hat rund 10 000 Angestellte. Die durchschnittliche Einschaltquote liegt bei 28,9 Prozent, im Jahr 2000 noch bei 40,7 Prozent. Die Konkurrenz durch die Privaten macht sich bemerkbar.

In den vergangenen 20 Jahren sind die beiden großen Privatsender TF1 und M6 stark gewachsen und nun mindestens ebenso etabliert wie France 2. TF1 hat eine durchschnittliche Einschaltquote von 27,2 Prozent, M6 von 14,5 Prozent. Weil die Sender so stark und weit verbreitet sind, bieten sie neben Unterhaltung schon lange Nachrichten und andere Info-und Politikformate. Die Programmpalette ist bei beiden komplett und wendet sich an die ganze Familie.

TF1, gegründet 1975 und 1987 privatisiert, gehört zum französischen Mischkonzern Bouygues. Aufgrund der Geschichte als ehemaliger Staatssender war das Programm von Anfang an sehr umfassend, wenn auch mit einem Akzent auf Unterhaltungsthemen. Jeden Tag gibt es Mittags- und Abendnachrichten (seit 1981). Dazu kommen zahlreiche Informationsprogramme wie „Reportages“ (seit 1987), „Sept à huit“ (seit 2000).

Über die Jahre gab es viele Informationssendungen, die aber nach mehreren Jahren eingestellt wurden. In der Filiale TMC von TF1 läuft „Quotidien“, eine erfolgreiche Info-Unterhaltungssendung. M6, gegründet 1987, hat seit 1993 eine Investigationssendung, „Zone interdite“ über Gesellschaftsthemen, die noch immer gut läuft.

„Capital“ über Wirtschaftsthemen gibt es seit 1988. Dazu kommt seit 2005 die Sendung „Enquête exklusive“ über Politik- und Gesellschaftsthemen, außerdem seit 2006 „66 minutes“ mit Porträts und Interviews. Abendnachrichten werden seit 1987 ausgestrahlt, Mittagsnachrichten seit 2006.

Andere Privatsender setzen auch auf Informationsformate, vor allem das 1984 gegründete Pay-TV Canal plus. Canal plus ist auf Kino, Kultur und Sport spezialisiert, hat auch Info-Sendungen im Programm. C8, gegründet 2012, ist eine Filiale von Canal plus. Sie hat Mittags- und Abendnachrichten. „Touche pas à mon poste „ (seit 2012) ist in dem Sender eine beliebte Talk Show über die Welt der Medien. Tanja Kuchenbecker, Paris

Mehr Vielfalt in Italien

Die TV-Landschaft Italiens ist ein Sonderfall in Europa, in mehrfacher Hinsicht. Der staatliche Rundfunksender Rai ist hoffnungslos politisiert und Spielwiese der Parteien: Der wichtigste Kanal Rai 1 ist die Domäne der Regierungskoalition, der zweite Kanal Rai 2 „gehört“ den Rechtsparteien, der dritte und kleinste Sender verbreitet die Sicht der Linksparteien. Die personelle Besetzung der Aufsichtsräte, Direktorenposten und Chefredaktionen führt im Parlament regelmäßig zu erbitterten politischen Auseinandersetzungen. Von unabhängiger Information kann in keinem der drei staatlichen Rai-Sender die Rede sein. Noch parteiischer ist die Berichterstattung im privaten Medienkonzern Mediaset, der mit Canale 5, Italia 1 und Rete 4 ebenfalls drei große Nachrichtensender unter einem Dach vereint und der von der Fininvest-Holding des Medientycoons und mehrfachen ehemaligen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi kontrolliert wird.

Lange Zeit hatte Mediaset im Privat-TV-Bereich praktisch ein Monopol inne, was laut der italienischen Gesetzgebung eigentlich unzulässig war. Berlusconi hatte in seiner Zeit als Regierungschef jedoch mit maßgeschneiderten Gesetzen dafür gesorgt, dass er alle drei Kanäle behalten konnte.

Als Premier kontrollierte Berlusconi nicht nur die Informationen auf seinen drei eigenen Sendern, sondern auch jene des wichtigsten Staatssenders Rai 1. Die Italiener waren somit jahrelang fast vollständig der Propaganda des in mehreren Strafprozessen angeklagten und in endlose Sexskandale verwickelten Regierungschefs ausgesetzt. Das hat sich im Jahr 2001 wenigstens zum Teil geändert: Damals hat die italienische Telecom den Sender La7 lanciert, dessen erklärtes Ziel es von Anfang an war, das Duopol von Rai und Mediaset zu durchbrechen. Der Fokus lag auf unabhängiger politischer Information; es wurden auch etliche neue Formate geschaffen, die Talkshow „Omnibus“ oder die politische Hintergrundsendung „Otto e mezzo“.

Gleichzeitig warb der damalige Telecom-Chef Marco Tronchetti Provera bei der Konkurrenz die fähigsten Nachrichtenprofis ab: Von Rai 1 kam die beliebte Südtirolerin Lilli Gruber, von Canale 5 Enrico Mentana. Gruber und Mentana waren einige der wenigen Top-Journalisten gewesen, die sich den politischen Diktaten bei Rai und Mediaset zumindest teilweise widersetzt hatten.
Trotz der Aushängeschilder ist La7 aber ein Nischensender geblieben. Die Wende kam 2013 mit dem Verkauf des Senders unter Urbano Cairo, zu dessen Imperium inzwischen auch die wichtigste Zeitung des Landes, der Mailänder „Corriere della Sera“, gehört. Unter Cairo erfuhr La7 eine weitere Modernisierung; dank innovativen Formaten wie „Propaganda Live“, das sich auch unbequemer Themen wie den unsäglichen Lebensbedingungen der Migranten in Süditalien annimmt, ist der kleine Sender beim gebildeten und jüngeren Publikum Nummer eins geworden. Bei den Einschaltquoten haben Rai und Mediaset weiter die Nase klar vorne – aber La7 ist längst zu einer Alternative zu den politisierten Platzhirschen geworden. Dominik Straub, Rom

Wo steckt Andrew Neil?

Monatelang hatte der schottische Veteran die Branche fasziniert mit der Ankündigung, sein politisch unkorrekter Nachrichtenkanal werde die öffentlich-rechtliche BBC das Fürchten lehren. Mitte Juni erfolgte der Launch von GB News. Zwei Wochen später verschwand der Chairman von der Bildfläche: zum „Batterien aufladen“.
GB News hat manche seiner technischen Kinderkrankheiten abgelegt. Von einem „Nachrichten“-Kanal kann aber noch weniger die Rede sein als zuvor. Deutlich tritt zutage: Für ihre 60 Millionen Pfund wünschen sich die Investoren, darunter Hedgefonds-Veteran Paul Marshall und die Investmentfirma Legatum, ein Spiegelbild ihrer Ansichten: Brexit-begeistert, skeptisch bis feindselig gegenüber Klimakrise, Rassismus-Vorwürfen und Kapitalismus-Kritik.

Statt des Neil-Konzepts eines auf Regionalisierung setzenden, gegen den Konsens der linksliberalen Londoner (Medien)-Elite gerichteten, aber seriösen Journalismus, also doch eine Art britischer Fox- News-Verschnitt. Dafür sorgen der australische Geschäftsführer Angelos Frangopoulos und Rechtspopulist Nigel Farage.

Der Brexit-Vorkämpfer, 57, darf zur besten Sendezeit eine Stunde über böse Europäer, kriminelle Immigranten und durchgeknallte Linksradikale schwadronieren.
Die Personalie wurde kurz nach der schwersten Krise des Start-Ups bekannt. Diese entzündete sich an einer Tabuverletzung des Moderators Guto Harri. In Solidarität mit dem englischen Fußball-Team sank Harri live aufs Knie. Die Geste des Protestes gegen Rassismus im Land war zu viel, fanden viele der überwiegend älteren, weißen, männlichen Zuschauer und boykottierten GB News.
Eilfertig wurde Harri suspendiert, nahm später aus Protest seinen Hut mit der ätzenden Beobachtung, der Sender sei zur „absurden Parodie“ verkommen: Statt die Meinungsfreiheit zu verteidigen, werde nun „Cancel Culture“ von rechtsaußen betrieben. Kurz darauf verließen auch Redaktionsleiter John McAndrew und seine Stellvertreterin Gill Penlington die Firma – alle drei genießen nicht nur den Respekt der Branche, sondern galten auch als Vertraute von Chairman Neil.
Hingegen war Brexit-Zugpferd Farage gewiss nicht Neils Wahl. Das Auftauchen des Rechtspopulisten konnte sich der Fernsehkritiker der „Sunday Times“ nur damit erklären, dass dem Sender „so eine Art Armageddon“ ins Haus gestanden habe. Dass der charismatische Politiker über eine treue Fangemeinde verfügt, beweisen die Einschaltquoten: „Farage“ kommt mit munterer Polemik auf mehr als doppelt so viele Zuseher wie die Konkurrenz von BBC News und Sky News, die dem Publikum dröge Nachrichten zumuten. Von Andrew Neil war zu hören, er werde „im September“ ins Studio zurückkehren. Wetten sollte man nicht darauf. Sebastian Borger, London

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false