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Selfie aus der NS-Zeit. Luna Wedler als Sophie Scholl hält selbst die Kamera.

© SWR

Hommage an die Widerstandskämpferin: @ichbinsophiescholl

Die richtige Tonalität, die richtige Zielgruppe: Zum 100. Geburtstag der Widerstandskämpferin starten SWR und BR ein besonderes Instagram-Projekt.

Stell dir vor, es ist 1942 und Sophie Scholl hat Instagram: Es liest sich wie eine Wette auf Social Media. Geht das, die Geschichte der NS-Widerstandskämpferin Sophie Scholl über Clips zu erzählen, in simulierter Echtzeit?

„Wir begleiten sie die letzten zehn Monate ihres Lebens, mit zwei, drei Video- Postings pro Woche, in denen die 21-Jährige über Handy-Selfies mitteilt, was sie an diesem Tag erlebt oder woran sie sich gerade erinnert“, erklärt Regisseur Tom Lass im Zoom-Telefonat. Die Clips werden von Social-Media-Regisseurin Suli Kurban um weitere Postings mit Fotos, Dokumenten und Illustrationen der Künstlerin Édith Carron ergänzt, basierend auf Scholls eigenen Zeichnungen.

Gestartet ist @ichbinsophiescholl am 4. Mai. An diesem Tag steigt die Tochter aus protestantischem Hause 1942 in den Zug nach München, um zu studieren, ihren Bruder und neue Freunde zu treffen. Der letzte Clip ist für den 18. Februar geplant, den Tag ihrer Verhaftung 1943. Vier Tage später wird sie hingerichtet.

Als die vom SWR entwickelte Idee (auch der BR ist beteiligt) an Tom Lass herangetragen wurde, reagierte er zunächst skeptisch. „Sophie Scholl in der Ich-Perspektive, das kann ja nach hinten losgehen. Mir war wichtig, dass wir die richtige Tonalität finden, uns nicht der Zielgruppe anbiedern.“

Tom Lass
Tom Lass

© SWR

Der einzige Kunstgriff sollte in der Annahme bestehen, dass sie ein Videotagebuch auf einem elektronischen Gerät erstellt. Auf keinen Fall sollte Sophie Scholl heutigen Jugendslang sprechen oder die Follower um Kommentare bitten. Ihr Handeln, ihr Reden sollte möglichst authentisch sein, aber auch historisch korrekt. Zwei Historikerinnen standen dem Projekt beratend zur Seite.

Sophie Scholl, die am Bahnhof von Bruder Hans abgeholt wird. Die Überraschungsparty zum 21. Geburtstag am 9. Mai (dieses Jahr feiert die Welt ihren 100.). Ihr Liebster, der Wehrmachtssoldat Fritz. Semesterferien in Ulm, der Vater wird verhaftet, die Mutter ist krank. Der Moment, als sie entdeckt, dass die unter der Matratze versteckten Weiße- Rose-Materialien verschwunden sind. SA-Uniformierte, die sie kontrollieren. Streit mit Hans, der nicht will, dass sie bei der Weißen Rose mitmacht. Und die berühmte Flugblattaktion an der Uni: Sophie schiebt die Blätter über die Balustrade – die Szene gab es auch in Marc Rothemunds Film von 2005, mit Julia Jentsch.

„Jetzt gerade fühle ich mich ein bisschen einsam“.

Auf Instagram spielt Luna Wedler („Das schönste Mädchen der Welt“) die Titelheldin. Hohe Stirn, klarer Blick, sie schaut direkt in die Kamera. Erzählt von ihrer Sehnsucht nach echtem Kaffee und Birnenschnaps, sagt verblüffend aktuelle Sätze wie „Jetzt gerade fühle ich mich ein bisschen einsam“. Gerne würde sie wieder ohne Schuldgefühle feiern, ohne Angst in die Zukunft schauen.

Die von Ira Wedel und Rebecca Martin geschriebenen Szenen sind eine halbe bis zwei Minuten lang, über 150 insgesamt. Eine Herausforderung, schon wegen der Drehzeit von nur 15 Tagen in Berlin und München. Und wegen des Budgets, das kaum Komparsen und keine gemieteten Oldtimer erlaubte.

Auch das Handyformat hatte seine Tücken. „Die Augen des Menschen sind nun mal nebeneinander, nicht übereinander, weshalb das Querformat das bewährte Seitenverhältnis ist. Schon für zwei Menschen wird es im Hochformat wahnsinnig eng“, so Tom Lass. Ein Selfie-Zweier mit Umarmung geht mit den Freunden, nicht aber mit einem SA-Mann.

Luna Wedler hielt selbst die Kamera, musste auf ihre Position achten und beim Switch in die PoV-Perspektive alle Spielpartner ins Format bekommen. Schuss, Gegenschuss, der Blick von außen, das ging alles nicht. Also musste Lass sich die Szenenauflösungen sehr genau überlegen, zusammen mit Kameramann Johannes Louis, der über eine Remote-Funktion die Schärfe nachziehen konnte.

Tom Lass hat sich wie sein Bruder Jakob mit Mumblecore-Produktionen einen Namen gemacht, zuletzt mit Episoden der Lockdown-Serie „Liebe.Jetzt“ auf ZDFneo. Der 37-jährige Autodidakt gilt als Meister der Improvisation, dies ist sein erster Kostümfilm. Als Schauspieler hat er damit Erfahrungen, auf die er nun zurückgreifen konnte.

„Aber halbwegs unberührte Natur gibt es höchstens sechs Sekunden lang.“

„Bei Impro-Filmen steht mir die ganze Welt zur Verfügung“, bei einem historischen Projekt ist Spontaneität kaum möglich. Trotzdem bat er den Kameramann, für die Zugreise aus dem Fenster eines ICE die Landschaft zu filmen, vielleicht ließe sich ja etwas davon in Zeitlupe verwenden. „Aber halbwegs unberührte Natur gibt es höchstens sechs Sekunden lang.“ Wobei er den Stempel „Der kann nur Impro“ sowieso gerne loswerden möchte.

In seinen Spielfilmen („Papa Gold“, „Kaptn Oskar“, „Blind & hässlich“) hat er sich zudem als Experte für die erste Liebe erwiesen, für die skurrilen Facetten des Erwachsenwerdens. Was ist anders beim Jungsein vor 100 Jahren und heute? Sophie Scholl war als Mädchen Scharführerin beim BDM, mit 15, 16 änderte sie ihre Haltung. Ihre Zivilcourage basierte auf christlichen Werten: Zum Reichsarbeitsdienst verdonnert, las sie die Schriften von Augustinus und Georges Bernanos’ Roman „Tagebuch eines Landpfarrers“. Nicht gerade Jugendlektüre.

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„Wir wollten die Gegenwart auf keinen Fall mit der Nazi-Diktatur gleichsetzen. Das verbietet sich, auch wenn es Menschen gibt, die das heute versuchen“, stellt Tom Lass klar. Er möchte, dass man Sophie Scholl als Mensch nahekommen kann. Dass sie nicht als Heldin berührt, nicht als Mythos, sondern als „nachdenkliche, reife, auch freche und humorvolle junge Frau in einer turbulenten Zeit“.

Für den Dreh hat der Filmemacher viel mit seiner Mutter telefoniert, die 1942 im heutigen Tschechien geboren wurde und sich noch erinnert, wie sie im Krieg im Bunker saß, wie Verwandte ins KZ mussten. Geschichte wird von Menschen gemacht. Wenn man das begriffen hat, wird es spannend, so Lass.

Wenn ich dasselbe Ziel hätte wie Sophie Scholl, würde ich dann auch so handeln? Lass ist zuversichtlich, über Insta- gram nicht nur 18- bis 24-Jährige zu erreichen. Die Ästhetik von Selfies kennt heute fast jeder. Und wie viel direkter Kontakt mit den Followern vielleicht doch möglich ist, ohne die historische Glaubwürdigkeit zu verraten, damit wird experimentiert, zehn Monate lang.

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