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Berliner Studio statt Balkon in Verona: Die Sprecher Yara Blümel und Nicolas Artejo imitieren das Kussgeräusch in „Julia und Romeo“ mit ihren Händen.

© Audible/Promo

Hörspiele und Hörbücher: Shakespeare für die Ohren

Das Hörspiel als Mainstream-Medium: Die Amazon-Tochter Audible holt Klassiker wie "Romeo & Julia" in die Moderne. Da geht es sogar an den Titel.

„Wer auch immer du bist, ob Dieb oder Bösewicht … wenn du es bist, Romeo, dann zeig dich bitte“. Besorgt, verängstigt, erwartungsvoll – all diese Gefühle legt Yara Blümel in diesen einen Satz aus der berühmten Balkonszene von „Julia & Romeo“. „Julia & Romeo“? Die Schreibweise dieses Titels ist weder falsch noch ein Zufall, denn während bei William Shakespeare Romeo zuerst genannt wird, hat in dieser Hörspiel-Neuinterpretation des britischen Autors David Hewson Julia die bedeutsamere Rolle.

Bei der Aufnahme ist Yara Blümel die ganze Zeit in Bewegung. Inhalt und Gesten gehen bei ihr sprichwörtlich Hand in Hand, so als ob Julia ihren Romeo mal zu sich ziehen will, um im nächsten Moment wieder auf Abstand zu gehen. Yara Blümel ist ein wahres Multitalent. Die in Brasilien geborene Schauspielerin und Sprecherin spielte in diversen Theater- und Musicalproduktionen – viele auch in Berlin – und lieh den unterschiedlichsten Film- und TV-Schauspielern ihre Stimme. Zudem war sie an zahlreichen Hörbuch-Produktionen beteiligt.

Im Berliner Tonstudio Stil steht vor ihr nicht der Geliebte Romeo, sondern ein Mikrofon. Sie befindet sich in einem schallgeschützten Raum. Die Außenwelt stellt für sie eine große Scheibe dar, auf der anderen Seite sitzt Regisseur Christian Hagitte am Mischpult. Das Hörspiel soll eine gewagte Neuinterpretation des Shakespeare-Klassikers werden, wenn es im Sommer ins virtuelle Regal der Online-Plattform Audible gestellt wird.

Wie sich ein solches Unterfangen anhören kann, hat der britische Autor David Hewson bereits im vergangenen Jahr mit der Überarbeitung von „Macbeth“ gezeigt. Nun also „Julia & Romeo“. Julia ist ein Kind der heraufziehenden Renaissance. Als junge Erwachsene mit intellektuellen Interessen wendet sie sich gegen die traditionellen Rollenvorstellungen.

Aus dem verwöhnten Mädchen wird bei Hewson eine emanzipierte und willensstarke Frau. Doch nicht nur am Rollenprofil wurde gefeilt, auch die Sprache wurde modernisiert, um den Klassiker in zeitgemäßes Audio-Entertainment zu verwandeln, wie Audible verspricht.

Warum leistet sich eine Plattform wie Audible diesen Luxus?

Das Amazon-Tochterunternehmen produziert in Deutschland jährlich 500 Hörbücher. Dem stehen zehn Hörspiele entgegen. Der Aufwand bei der Herstellung, die immer mehr den Produktionsbedingungen bei Film und Fernsehen ähnelt, ist ungleich höher als bei Hörbüchern. An der Produktion des Shakespeare-Klassikers sind zwischen 30 und 40 Personen beteiligt, die Arbeiten ziehen sich über mehrere Monate hin. Es wurde eigens ein Soundtrack komponiert.

Doch warum leistet sich eine Plattform wie Audible diesen Luxus? Die Macher argumentieren mit dem besonderen Hörerlebnis. Man strebe größtmögliche Vielfalt im Katalog an, lauten die Antworten auf diese Frage. Das klassische Drama soll als actiongeladener Thriller präsentiert werden, hieß es vor einem Jahr bei „Macbeth“.

Die Sprecher gehen auf unterschiedliche Art an die Arbeit. Yara Blümel, die für diesen Sommer während eines Gardasee-Urlaubs einen Abstecher nach Verona plant, liest die Stoffe gerne vom iPad. Bei der Vorbereitung macht sie sich Anmerkungen zur Betonung direkt auf dem Tablet. Andere Sprecher bevorzugen weiterhin die Papierform oder verzichten ganz darauf, die Bücher vorab zu lesen. Sie vertrauen auf die Spontanität der ersten Lesung. Im Fachjargon wird dies „Prima Vista“ genannt.

Einige Sprecher haben eine eigene Fan-Gemeinde, die Produktionen speziell danach auswählt, ob David Nathan, Uve Teschner oder Mechthild Großmann (bekannt als Reibeisenstimme aus dem Münster-„Tatort“) liest. „Sprecherinnen sind unterrepräsentiert“, merkt Yara Blümel dazu an. Dabei erhalten Thriller, die von Frauen gesprochen werden, ebenfalls gute Bewertungen von den Hörern. Wie bei Internetplattformen üblich, können Kunden die Produktionen bewerten, wobei Audible zwischen Stoff und Sprechern unterscheidet.

Auch Regisseur Christian Hagitte profitiert von den besseren technischen Möglichkeiten. Besonders wichtig sind neutrale Aufnahmen. So hat sich das Sounddesign in den vergangenen Jahrzehnten drastisch verändert, auch wenn einige Soundeffekte nach wie vor mit Händen und Füßen entstehen. Doch durch mobile Rekorder und die Computertechnik haben sich auch hier die Produktionsbedingungen nachhaltig verändert.

Ein Stichwort lautet echter Raumklang. Das gesprochene Wort und die Soundeffekte (bei „Julia & Romeo“ eine Laute) werden neutral aufgenommen und können nachher an den unterschiedlichsten Orten, zum Beispiel in einer mittelalterlichen Kammer, eingebaut werden.

Wie passen die Audioprodukte in mein Leben?

„Hörbücher und Hörspiele besetzen verglichen mit gedruckten Werken allerdings nach wie vor eine Nische“, sagt Nils Rauterberg, Geschäftsführer von Audible Deutschland. Diese Nische hat jedoch eine beachtliche Größenordnung angenommen. Das Amazon-Unternehmen verkauft mittlerweile mehr als 130 Millionen Hörstunden im Jahr. „Das Volumen hat sich in den vergangenen drei Jahren mehr als verdoppelt“, sagt Rauterberg, der Hörbücher zum Mainstream-Medium entwickeln will.

Der Knackpunkt bei vielen Menschen sei, dass sie sich die Frage stellen: „Wie passen die Audioprodukte in mein Leben?“, sagt Rauterberg. Sie fürchten, dass ihnen die Zeit fehlt, sich Hörbücher anzuhören – obwohl es doch gerade mit ihnen möglich ist, die Zeit beispielsweise beim Auto- oder U-Bahnfahren oder beim Bügeln zu verkürzen. Als Geschenk sind Hörbücher im CD-Format freilich praktischer. „Um einen Download bekommen sie keine Schleife“, scherzt der Audible-Geschäftsführer.

Wie bei Video-on-Demand-Plattformen spielen Eigenproduktionen inzwischen auch im Audio-Markt eine immer wichtigere Rolle. Dem Vorbild von Amazon Prime Video folgend werden sie auch von Audible „Originals“ genannt. Hörbücher wie „Passagier 23“ von Sebastian Fitzek, gelesen von Simon Jäger, kommen auf weit über 100 000 Verkäufe (Downloads und CDs).

Inzwischen gibt es dazu auch ein Hörspiel. „Er ist wieder da“ von Timur Vermes, gelesen von Christoph Maria Herbst, ist mit über 400 000 Verkäufen ein echter Dauerbrenner. Aber auch Stoffe wie die Regionalkrimis der „Franz Eberhofer“-Reihe – inzwischen gibt es acht Teile – stehen regelmäßig in den Top drei der Audible-Charts.

Die Erwartungen an einen klassischen Stoff wie „Julia & Romeo“ lassen sich in solchen Zahlen hingegen nicht messen, sagt Rauterberg: „Wir sehen, dass diese Stoffe im ersten Schritt vielleicht noch keine goldene Schallplatte gewinnen, aber trotzdem bereits eine durchaus bemerkenswerte Fangemeinde unter unseren Abonnenten finden und neue Kunden anlocken. Insofern war ,Macbeth‘ für uns schon ein Erfolg, der uns ermuntert hat, nun ,Julia & Romeo‘ zu machen.“

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