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Moderiert aus dem Exil. Tichon Dsjadko ist Chefredakteur des TV-Senders Doschd. Vergangene Woche war er zum ersten Mal mit „Hier und jetzt“ auf Sendung.

© Denis Kaminev

Fernsehsender Doschd - aus Riga für Russland: „Fortschritt ist der Unterdrückung immer voraus“

Die russischsprachige TV-Station Doschd sendet wieder – aus der lettischen Hauptstadt Riga. Gespräch mit Chefredakteur Tichon Dsjadko.

Herr Dsjadko, fühlen sich russische Journalistinnen und Journalisten, die Russland nach Kriegsbeginn verlassen haben, im Ausland sicher?

Ich persönlich fühle mich in Lettland, wo ich mich gegenwärtig aufhalte, absolut sicher. Außerdem hängt die Antwort auf Ihre Frage vom jeweiligen Land ab: In Georgien zum Beispiel, wo ein Großteil unseres Teams die vergangenen vier Monate verbracht hat, gibt es ein anderes Problem: Journalisten können Schwierigkeiten bei der Einreise haben.

Gab es solche Fälle im Sender Doschd, für den Sie arbeiten?
Ja, Anfang März wurde einem unserer Hauptmoderatoren, Michail Fischman, die Einreise nach Georgien verweigert. Doch ich möchte glauben, dass sich russische Journalisten im Ausland keine ernsthaften Sorgen um ihre Sicherheit machen müssen.

Sie nehmen aus Riga an unserem Gespräch teil, wo sich die neue Zentrale von Doschd befindet. Jetzt nahm der Sender seinen Betrieb in Teilen wieder auf.
Nach und nach werden wir weitere Sendungen zu unserem Programm hinzufügen, sobald alle unsere Mitarbeiter in den anderen Einsatzstädten Tiflis, Amsterdam und Paris eingetroffen sind. Die technischen Vorbereitungen sind noch nicht auf dem Stand, den wir für eine vollständige Rückkehr in den Sendebetrieb brauchen. Bisher haben wir nur ein paar Sendungen ausgestrahlt – Nachrichtenprogramme und die Autorenstücke von Katerina Kotrikadze, Anna Nemzer und Michail Fischman. Mitte Herbst planen wir mit unserem gesamten Programm auf Sendung zu gehen.

Ist ein Standort in Deutschland geplant?
Noch nicht. Obwohl einer unserer Korrespondenten dort ist. Grundsätzlich wollen wir ein globales Unternehmen aufbauen und uns in Zukunft nicht auf die vier Studios beschränken. Ich nenne unser Projekt scherzhaft „RT 2.0 – Russia Tomorrow“, einen russischsprachigen Fernsehsender, der in der ganzen Welt zu empfangen sein wird und sich an alle russischsprachigen Menschen wendet.

Wen wollen Sie ansprechen: Menschen in Russland oder Russinnen und Russen im Ausland?
Wir wissen, dass unser Publikum zweigeteilt ist. Der erste Teil und für uns im Moment wahrscheinlich der wichtigste sind die Menschen in Russland. Wir wollen vor allem sie erreichen. Gleichzeitig gibt es einen zweiten wichtigen Teil unseres Publikums. Das sind die Russen außerhalb von Russland – vor allem im postsowjetischen Raum, aber auch in Europa, Israel und in den USA. Unsere Aufgabe ist es, einerseits den richtigen Ton zu finden, um mit den Menschen in Russland zu sprechen, und andererseits, die Interessen des Publikums außerhalb Russlands nicht zu vergessen.

Was passiert, falls Youtube in Russland gesperrt wird?
Wissen Sie, wenn man mit einem Betrüger Karten spielt, ist es sehr schwierig, den nächsten Zug vorherzusagen. Wenn Youtube abgeschaltet wird, werden wir andere Wege finden, um das Publikum zu erreichen. Eine große Zahl von Menschen in Russland nutzt VPN. Wir alle wissen ganz genau, dass es selbst in den 70er-Jahren in der Sowjetunion möglich war, verbotene Radiosender zu hören.

Ich bin fest davon überzeugt, dass der Fortschritt, so pathetisch das auch klingen mag, der Unterdrückung immer voraus sein wird. Es wird clevere Leute geben, die einen Ausweg aus dieser Situation finden werden, und wir werden ihn dann nutzen.

Finanzierung über Abos

Wie hat sich Doschd finanziert?
Zum ersten Mal seit sieben Jahren ist es Doschd in den vergangenen zwei Jahren gelungen, die Kosten selbst zu decken und sogar einen kleinen Gewinn zu erzielen. Ein erheblicher Teil unseres Budgets bestand aus den Einnahmen, die wir durch Abonnements erzielt hatten. Darüber hinaus stammte ein großer Teil aus der Monetarisierung unseres Contents auf Youtube. Dazu kamen Spenden und ein kleiner Teil durch Werbung.

Und in Zukunft?
Unser Plan bleibt derselbe: Wir wollen wieder selbst unsere Kosten decken können – ohne irgendwelche Investoren, um uns nach innen und nach außen vollkommen unabhängig fühlen zu können. Jetzt, in der Anfangsphase, nehmen wir allerdings Hilfe von unabhängigen Organisationen an. Allgemein haben wir einen sehr strikten Grundsatz: Wir nehmen kein Geld von Regierungen und Personen an, die auf irgendeine Weise mit der Politik verbunden sind.

Im liberalen Milieu Russlands wird die Frage der persönlichen Verantwortung eines jeden Russen und einer jeden Russin für die von Russland begangenen Gräueltaten diskutiert. Teilweise war die Rede von „guten“ Russen, die sich gegen den Krieg geäußert und an Protesten teilgenommen haben, und von „bösen“ oder „schlechten“ Russen, die es verdient hätten, bestraft zu werden. Wie schätzen Sie das ein?
Ich habe viel über dieses Thema nachgedacht und wir haben auch im Team darüber gesprochen. Ich bin der Meinung, dass diese Diskussion, wie jede andere auch, ihre Daseinsberechtigung hat. Dennoch wird es bei Doschd auf keinen Fall moralische Imperative geben. Wenn ein Medium sagt, dass jemand jemandem etwas schuldet, verliert es 10 000 Abonnenten, Zuschauer oder Leser.

Das müssen Sie erklären.
Eine Person, die in Russland lebt und gegen den Krieg ist, aber Angst hat, zu einer Kundgebung zu gehen oder auf Facebook „Nein zum Krieg“ zu posten, hat das Recht, Angst zu haben. Die Menschen haben generell das Recht, sich zu fürchten, zu zweifeln.

Russland hat in den vergangenen 20 Jahren die Informationsfreiheit immer weiter eingeschränkt. Eine große Anzahl von Menschen weiß einfach nicht, was vor sich geht. Wenn wir zu ihnen sagen: „Ihr seid verantwortlich“, und das auch noch auf Sendung, werden sie nicht einmal verstehen, wofür sie verantwortlich sind. Sie werden nur sagen: „Fahrt zur Hölle, wer seid ihr überhaupt?“

Wir müssen den richtigen Ton treffen, wenn wir mit den Menschen in Russland sprechen. Ein großer Teil der russischen Bevölkerung verdient ein ruhiges, geduldiges Gespräch.

Wer ist ein "guter", wer ein "böser" Russe?

Und die Frage nach den „guten“ und „bösen“ Russen?
Klar ist, dass die „bösen“ Russen diejenigen sind, die den Befehl zum Töten geben und diesen Krieg begonnen haben. Ist jemand, der sich gegen den Krieg ausgesprochen hat, automatisch ein „guter“ Russe, und ist jemand, der sich nicht geäußert hat, automatisch ein „böser“ oder „schlechter“ Russe?

Bin ich, Tichon Dsjadko, für den Beginn des Krieges in der Ukraine verantwortlich? Ich glaube nicht. Tragen die 200 Mitarbeiter des Fernsehsenders Doschd – die an Demonstrationen teilgenommen und kritisch berichtet haben – die Verantwortung dafür? Nein, das tun sie nicht. Sind die Propagandisten dafür verantwortlich? Zweifelsohne sind sie das. Im Allgemeinen aber sind Verallgemeinerungen eine sehr gefährliche Sache.

Das Interview führten Elizaveta Antonova und Anastasia Trenkler.

Seit Kriegsbeginn ist es in Russland per Gesetz verboten, die Kampfhandlungen in der Ukraine als „Krieg“, „Invasion“ oder „Angriff“ zu bezeichnen. Wer dagegen verstößt, riskiert bis zu 15 Jahre Haft. Im Zuge dessen wurde die Webseite des kremlkritischen Fernsehsenders Doschd, was auf Deutsch „Regen“ bedeutet, am 1. März 2022 gesperrt. Kurz darauf stellte der Sender seinen Betrieb ein. Das Medium berichtet seit 2008 über russische Politik und die Protestbewegungen des Landes. 2014 schalteten russische Kabelanbieter den Sender ab. 2021 erhielt Doschd den Status „ausländischer Agent“, was strenge Auflagen zur Folge hatte.

Viereinhalb Monate nach seiner Schließung nahm der Sender vergangenen Dienstag um 20 Uhr Moskauer Zeit unter der Moderation von Tichon Dsjadko seinen Betrieb in Teilen wieder auf. Mitte Herbst plant Doschd mit einem ausgeweiteten Programm aus neuen Studios in Tiflis, Paris und Amsterdam zu berichten. Tsp

Elizaveta Antonova, Anastasia Trenkler

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