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Jägerin und Gejagter, Gejagte und Jäger. Der Mörder André Haffner (Felix Klare) und die Polizistin Sunny Becker (Friederike Becht) schenken einander nichts. Foto: Degeto/Rabold

© Deegeto/MDR/Rabold

Ein Muss für den Serienfan: Wenn der Blick in den Abgrund geht

„Schneller als die Angst“: Eine besondere ARD-Serie um das innere und äußere Inferno von Menschen.

Sein Vater würde sich freuen, wenn die Polizei seinen Sohn auf der Flucht erschießen würde. Der Sohn, das ist der geflohene Frauenmörder André Haffner (Felix Klare). Er ist von Frauen besessen, die Gesichter seiner Opfer hat er sich auf seinen Rücken tätowieren lassen, Tattoos wie ein Körperanzug. Eine Stelle ist noch frei, für seine Königin. Wer sie ist? Vielleicht die LKA-Fahnderin Sonja „Sunny“ Becker (Friederike Becht) in Magdeburg, die gerade in den Polizeidienst zurückgekehrt ist. Beurlaubt war sie, weil sie eine Kollegin bei einem gefährlichen Einsatz im Stich gelassen hatte.

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Sunny, jung und ehrgeizig, trägt schwer an einem Trauma. Sie wurde vergewaltigt, was sie ihren Kolleginnen und Kollegen verschweigt und nur der Psychologin, die sie auf ihrem Weg in den Polizeidienst begleitet, verraten hat. Je näher sie André Haffner kommt, umso mehr muss sie erkennen, dass sie das Spiel gegen das Böse nicht gewinnen kann, ohne sich mit der eigenen Situation auseinanderzusetzen. Denn ihr eigenes Trauma ist ihr genauso auf den Fersen wie sie selbst dem manipulativen Mörder, sie muss „Schneller als die Angst“ sein. In dieser Grenzsituation werden Sunnys Beziehungen zu ihren Kolleginnen und Kollegen in ihrer Polizeifamilie zum mitentscheidenden Faktor.

[ „Schneller als die Angst“, 1., 2. und 9. Januar, ARD, um 21 Uhr 45. Alle Folgen seit 30. 12. in der Mediathek]

Der sechsteilige ARD-Thriller weitet sich zum Psychogramm, neben der eigentlichen Fahndung werden die Motivlagen des Täters und seiner Verfolgerinnen und Verfolger immer prekärer. Jäger und Gejagte, die Unterschiede beginnen zu verschwimmen. Und gibt es nicht eine „Ratte“ im eingeschworenen Fahndungsteam? Und ist da nicht einer, der Sunnys Leben zerstören möchte?

„Schneller als die Angst“ hat sechs Mal 47 Minuten Zeit. Zeit, die für zahlreiche Aktionen, nicht aber für bloße Action genutzt wird. Da ist Sunnys Kollege Markus Fechner (Christoph Letkowski), den sie während der Fahndung als Chefin ablöst, da ist Torsten Wächter (Andreas Döhler) aus Potsdam, der an der ersten, erfolgreichen Jagd auf Haffner beteiligt war, da ist der Chef Ralf Keller (Thomas Loibl), da ist die Psychotherapeutin Nora Belling (Sarah Bauerett). Es ist der vielköpfige Personenkranz, der die Serie personalisiert und facettiert, reich macht. Kaum eine Figur, die die Autoren Klaus Arriens und Thomas Wilke nicht sorgfältig ausgestattet haben. Und, ganz wichtig: Es agieren Menschen, nicht Marionetten.

Szenen zum Wegschauen

Was die Serie so besonders macht. Es gibt Tat und Täter, Jäger und Gejagte, es gibt Szenen, wo man wegschauen möchte, die Spannung ist unheimlich. „Schneller als die Angst“ ist mehr als Geisterbahn, es ist die Berg-und-Tal-Fahrt von Menschen in ihrem Inneren und im Äußeren.

Und Felix Klare, der sonst den Kommissar Sebastian Bootz im Stuttgarter "Tatort" spielt, zeigt seine ganze Könnerschaft. Sein Frauenmörder ist ein Soziopath, gewiss, doch hat er dieses Gespür für die Manipulation von Menschen, besonders von Frauen, die schon, von ihm als „Seelenschwestern“ gepriesen, während seiner Haftzeit Kontakt gesucht hatten. Schauen Sie mal in die Augen von André Haffner. Dahinter ist keiner zu Hause.

Die Dramaturgie der sechs Folgen prämiert eine Eskalationsstrategie. Sunny muss erfahren, dass ihr Vergewaltiger aus dem Kollegenkreis stammt. André Haffner sucht seinen Sohn. Die Wege verlieren sich, die Wege kreuzen sich, um sich im Finale zu parallelisieren.

Friederike Becht ganz vorne

Friederike Becht überragt. Sie offeriert das Psychogramm einer Frau, die sich selber wieder in die Spur bringen muss. Sunny Becker hat nichts als ihre Arbeit, selbst ihr Freund ist bei der Polizei. Becht spielt ihre Fahnderin mit außerordentlicher Präzision, ebensolcher Selbstgewissheit, ebensolcher Irritation. Sunny muss sich aus dem Gefängnis ihrer Vergangenheit und leidvollen Erfahrungen lösen und es will scheinen, dass der psychopathische Haffner ihr einen Weg weisen kann, wenn er von (seiner) Freiheit spricht. „Als ob er meine Gedanken lesen kann“, sagt sie. Mehr am Rande ihrer Kraft als im Vollbesitz ihrer Kräfte, das Trauma als entzündlicher Treibstoff. Das entwickelt Energie, das beeindruckt, weil Becht es so und nicht anders zeigt.

Felix Klare gelingt, was selten ist: Er spielt seinen „Tatort“-Kommissar, also den Mann fürs Gute, aus dem Kopf des Zuschauers und ersetzt ihn durch den Frauenquäler und Frauenmörder André Haffner. Furchterregend, beherrscht, furchterregend beherrscht. Ein mordender Überlebenskünstler.

Die Serie hat neben der Fahndung immer eine zweite Ebene – die der Fahnder selbst. Sie sehen sich als Polizeifamilie, doch das Füreinander-Einstehen, das gemeinsame Feiern und Verbrüdern hat seine Grenzen. Warum bekommt Sunny die Leitung übertragen, wäre Markus nicht der bessere Leitwolf? Und Sunny bezichtigt bald diesen, dann jenen Kollegen, sie vergewaltigt zu haben. Es liegt ein dichtes Beziehungsnetz über der LKA-Truppe.

Keine Nebenrollen, keine Nebenszenen

„Schneller als die Angst“ setzt da auf eine Variation der Figuren und ihrer Gestimmtheit, sodass es quasi keine Nebenrollen und Nebenszenen gibt, sondern nur Hauptrollen auf der Ebene der Gleichwertigkeit. Jede Figur hat ihre eigene Geschichte, manche von ihnen haben eine „hidden agenda“.

Eine imposante Gemeinschaftsarbeit ist zu besichtigen. Zugleich ein Ergebnis der vorzüglichen Regie von Florian Baxmeyer und Kamermann Marcus Kanter, die die Serie dynamisch rhythmisieren, in einen spannungsreichen Mix aus subjektiven und objektiven Perspektiven fassen. „Schneller als die Angst“ ist besonders, ohne besonders sein zu wollen.

Große Fernsehkunst

Was Autoren, Regie, Kamera, Schnitt und das ganze, große Ensemble in sechs Folgen hineinlegen, inszenieren, ja zelebrieren, das ist wahre Serienkunst in der Fernsehkunst. Form und Inhalt bedingen einander, fördern und fordern einander.

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