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Gefahr im Verzug.  Anne Rehme (Anna Thalbach), Sekretärin der KPD-Fraktion, berichtet den Abgeordneten von der Durchsuchung der Parteizentrale nach der Machtübernahme Hitlers.

© Thomas Bresinsky/C-Films

Dokudrama auf Arte: Der Reichstag - in Brand gesteckt, zerbombt, wieder aufgebaut und verhüllt

Aufwendiges Dokudrama: Arte zeichnet die wechselvolle Geschichte dieses „deutschen Hauses" als Serie von Konflikten nach.

Er wurde in Brand gesteckt, zerbombt, wieder aufgebaut und mit Stoffbahnen vollständig verhüllt: Der Reichstag in Berlin. Ein aufwendiges Arte-Dokudrama zeichnet die wechselvolle Geschichte dieses „deutschen Hauses" als Serie von Konflikten nach. Der Ärger begann bereits mit der Wahl des Baugrundstücks. Athanasius Raczynski, ein polnischer Graf, weigerte sich, den damaligen Königsplatz – der heutige Platz der Republik – an die Stadt zu verkaufen. Danach zerstritt sich der Frankfurter Architekt Paul Wallot über die Baupläne mit Wilhelm II.

In den Augen des Kaisers war das Repräsentantenhaus ohnehin nur eine „Schwatzbude“ und überhaupt der „Gipfel der Geschmacklosigkeit“. Der Reichstagsbrand von 1933 diente schließlich als Vorwand, um die Grundrechte der Weimarer Verfassung außer Kraft zu setzen – eine entscheidende Etappe auf dem Weg zur Errichtung der NS-Diktatur.

Christoph Weinert spult diese heterogenen Ereignisse nicht wie in einem Geschichtsbuch herunter. Der Autor preisgekrönter Historien-Dokumentationen konterkariert die nationale Relevanz des Bauwerks, indem er seine Geschichte aus der Perspektive von Randfiguren erzählt. Den italienischen Tagelöhner Gaetano Negri beispielsweise kosteten mangelnde Sicherheitsvorkehrungen bei den Bauarbeiten das Leben.

Der Film macht nachvollziehbar, wie die SPD-Politikerin Marie Juchacz sich gefühlt haben mag, die am 19. Februar 1919 als erste weibliche Abgeordnete ihre Rede mit den für männliche Ohren ungewöhnlichen Worten „Meine Herren und Damen“ begann. Aus der Sicht des Schriftstellers und Journalisten Ferdinand Hardekopf, der als einer von 20 Stenographen im Reichstag arbeitete, wird spürbar, wie sich schon damals der Antisemitismus in den Debatten der Abgeordneten durchsetzte.

Ungewöhnliche Perspektiven

Zum Leben erweckt werden die Zeitzeugen mit akribisch ausgestatteten Nachinszenierungen. Profilierte Darsteller wie David Schütter, Beat Marti und Anna Thalbach sprechen direkt in die Kamera – eine Brechung, die den Illusionscharakter des Reenactments bewusst unterläuft. Im Wechsel zwischen fiktiven und dokumentarischen Betrachtungen wird die Geschichte dieses urdeutschen Bauwerks aus ungewöhnlichen Perspektiven beleuchtet.

Berührend ist das tragische Schicksal des Juden Erich Loevy. Dessen Berliner Kunstgießerei hatte die Buchstaben des über der Eingangspforte angebrachten Schriftzugs „Dem Deutschen Volke“ angefertigt. Im Kriegsjahr 1918 wurden dafür erbeutete französische Kanonenrohre eingeschmolzen. Weil Loevy, der sich später Ernst Gloeden nannte, einen der Wehrmachtsoffiziere versteckte, die am 20. Juli 1944 Hitler stürzen wollten, wurde er zum Tode verurteilt – im Namen jenes „deutschen Volkes“, an dessen Identität er mit seinem Schriftzug buchstäblichen Anteil hat.

Das Dokudrama verwebt markante Momentaufnahmen aus 130 Jahren zu einem Gesamtbild, das Brüche und Diskontinuitäten nicht verschweigt. Zu Wort kommt neben den Historikern Wolfram Pyta und Michael Cullen auch Norman Foster. Der Stararchitekt modifizierte den muffig anmutenden Reichstag zu einem modernen Parlamentsgebäude.

So schlägt der Film in 80 Minuten einen atemberaubenden Bogen: Von der Kaiserzeit, in der die Militärs noch alberne Federbüschel auf dem Kopf trugen, über den Kalten Krieg, in dem der Sandsteinkoloss im Niemandsland zwischen verfeindeten Weltsystemen stand, bis zu einem Auftritt von David Bowie, der 1987 auf dem Reichtagsgelände das passende Lied zum permanenten Wechsel anstimmte: „Changes“.
„Der Reichstag“, Arte, Dienstag, um 20 Uhr 15

Manfred Riepe

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