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Gegen den Vernichtungswillen der Nazis: Jüdische Gebete im Warschauer Ghetto.

© NDR/Anna Wloch

Doku über Warschauer Ghetto: Alltägliches Grauen

In Metallkisten und Milchkannen vergraben: Ein amerikanisches Dokudrama auf Arte über das geheime Archiv der polnischen Juden.

Emanuel Ringelblum, vor Kriegsausbruch Lehrer an einer jüdischen Schule, ahnte schon früh, dass die Pläne der Deutschen, die über 300 000 Menschen mit einer hohen Mauer von der Umwelt abriegelten, auf einen Zivilisationsbruch hinauslaufen würden. Um für die Nachwelt festzuhalten, wie es in diesem Ghetto zuging, sammelte er unter ständiger Lebensgefahr Zeugnisse und Dokumente, gemeinsam mit bis zu 30 Helfern, zu denen auch der junge Marcel Reich-Ranicki zählte, der im Film allerdings unerwähnt bleibt.

„Who will write our History?“, so der Originaltitel dieser internationalen NDR-Koproduktion, setzt Ringelblums Archiv „Oneg Shabbat“ (Freude am Schabbat) ein filmisches Denkmal. Die amerikanische Regisseurin Roberta Grossman, Spezialistin für jüdische Themen, stützt sich dabei auf die Recherchen des US-Historikers Samuel Kassow, dessen Buch „Ringelblums Vermächtnis“ 2010 auch auf Deutsch erschien.

Die Geschichte des Warschauer Ghettos wurde schon oft erzählt. Mehr oder weniger ungewollt transportieren Chronisten dabei auch die Sichtweise der Täter. Dieses US-amerikanische Dokudrama über das geheime Archiv der polnischen Juden zeigt dagegen, wie sich Menschen mit Mut, Erfindungsreichtum und Poesie gegen den Vernichtungswillen der Nazis zur Wehr gesetzt hatten.

Grossmans Film verwendet auch fiktive Szenen. Schauspieler sprechen untertiteltes Jiddisch. Das Reenactment wird zurückhaltend eingesetzt, es erinnert nicht an Guido Knopps Historienverkitschung. Der polnische Darsteller Piotr Glowacki verkörpert den 1944 ermordeten Ringelblum. Jowita Budnik schlüpft in die Rolle der Holocaustüberlebenden Rachela Auerbach, aus deren Perspektive die Ereignisse aufgerollt werden.

Kultureller Austausch mit Theateraufführungen, Konzerten

Der Film macht spürbar, wie die polnisch-jüdische Schriftstellerin mit der Unmöglichkeit der Schilderung dieser Ghetto-Erfahrung rang. Ihr Tagebuch, das dank dem Untergrundarchiv überliefert ist, zählt zu den wichtigsten Holocaustdokumenten.

Ergänzt werden die Nachinszenierungen mit Stellungnahmen von Historikern und schockierenden Filmdokumenten. Auf einem dieser Schwarz-Weiß-Filme ist zu sehen, wie ein grinsender junger Soldat einem älteren Juden den Bart abschneidet. In diesen perfiden Inszenierungen der Nazis wurden Opfer zu entmenschlichten Objekten der Unterwerfung.

Ein völlig anderes Bild entsteht dank jenen knapp 30 000 Seiten des Untergrundarchivs, das Ringelblum und seine Unterstützer in Metallkisten und Milchkannen vergraben hatten. Diese Schilderungen belegen: Trotz unvorstellbarer Repressalien und quälendem Hunger hielten polnische Juden bis zuletzt einen regen kulturellen Austausch mit Theateraufführungen, Konzerten, Bibliotheken und Schulen aufrecht.

Das Archiv, das 1946 und 1950 in Teilen geborgen werden konnte und seit zehn Jahren zum Weltdokumentenerbe der Unesco gehört, enthält keine wohlgeordnete Historie wie in einem Geschichtsbuch. Neben Fotos, NS-Verordnungen, Schilderungen von Kindern und jiddischer Poesie birgt es auch Zeugnisse unvorstellbarer Unmenschlichkeit.

Der Film führt vor Augen, wie das Grauen alltäglich und der Alltag zum Grauen wurde. So mussten Frauen, weil es den „Herrenmenschen“ so gefiel, „den Gehsteig mit ihrer Unterhose wischen und sie nass wieder anziehen“.

Und wie fühlt es sich an, wenn man täglich an sterbenden Kindern vorbeiging? War derjenige herzlos? Oder war er stark, weil er eine Entscheidung getroffen hat, die eigenen Kinder zu retten? Der Film lässt erahnen, dass in einer solchen Situation keine adäquate Weise des Handelns mehr möglich ist.

„Das Geheimarchiv im Warschauer Ghetto“, ARD, Dienstag, 22 Uhr 45

Manfred Riepe

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