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Ein Mann für alle Fälle? Sascha Mahlberg (3. v. l.) ist im Hauptberuf Müllmann. Er lässt sich aber oft und gern für TV-Sendungen aller Art – wie hier beim ARD-Quiz von Eckart von Hirschhausen – buchen.

© Youtube

Diskussion um journalistisches Ethos: Reise und Gage nach Absprache?

Nach dem WDR-Fall in „Menschen hautnah“ – wo die Protagonisten in solchen Doku-Formaten künftig herkommen sollen.

Als Single in der Altersgruppe zwischen 18 und 35 Jahren ins Fernsehen zu kommen und dafür noch bezahlt zu werden, ist derzeit kein Problem. Die Sender haben großes Interesse an Menschen mit diesem Profil. Da werden zum Beispiel „Singles, die zuvor eine mind. zweijährigen Beziehung geführt haben“ für eine Woche im Februar gesucht, um vor der TV-Kamera über die Vor- und Nachteile von langen Beziehungen und dem Singledasein zu sprechen. Als Aufwandsentschädigung wird „eine Reise + Gage nach Absprache“ geboten. Für einen anderen „renommierten Sender“ werden Singles gesucht, „die ihren Ex zurück haben wollen“. Der Sender verspricht: „Wir möchten eure Geschichte erzählen und euch dabei unterstützen, euren Ex zu überraschen.“

Annoncen dieser Art auf der Webseite Komparse.de finden seit gut zwei Wochen besondere Beachtung. Der WDR hatte Ungereimtheiten bei drei Dokus seiner Reihe „Menschen hautnah“ zugegeben und angekündigt, dass man die zuständige Autorin (die sich inzwischen in einem Interview gegen die Vorwürfe gewehrt hat) in Zukunft nicht mehr beauftragen werde. Beanstandet wurde, dass die bezahlten Protagonisten mit unterschiedlichen Namen und mit sich widersprechenden Aussagen in den Sendungen gezeigt wurden. „Diese Vorgehensweise ist für ein dokumentarisches Format wie ,Menschen hautnah‘ nicht akzeptabel“, sagte WDR-Chefredakteurin Ellen Ehni. Seitdem wird in der Branche heftig über den journalistischen Ethos bei solchen Dokus diskutiert, über die Art und Weise der Beschaffung von Themen und Protagonisten.

Die Webseite Komparse.de ist nicht ganz neu, sie existiert seit 1999. Mit über 64 000 Gesuchen sieht sich die Plattform selbst als „Spiegelbild der deutschen TV- und Filmgeschichte ab der Jahrtausendwende“. Jede Stunde gehen auf Komparse.de ein bis zwei neue Anfragen ein.

Gesucht werden nicht nur Komparsen, Statisten und Kleindarsteller, die Redaktionen und Produktionen hatten zudem von Anfang an Bedarf „an echten Menschen und echten Geschichten“. Zudem zeigte sich, dass die Seite auch Menschen anzog, die „mit ihren realen Identitäten und Biografien“ vor eine Kamera treten wollen. Komparse.de ist nicht die einzige Plattform dieser Art, auch auf Stagepool.de werden via Internet Figuren für die TV-Formate gesucht.

Die Vorstellungen der Sender sind äußerst konkret: Ein Vorabendmagazin im Privatfernsehen ist aktuell an zwei Frauen interessiert, „die kurvig sind und unter erhöhtem Blutdruck leiden und jeweils eine Woche lang eine Kohlsuppen- oder Saftkur ausprobieren möchten“. Für eine „seriöse TV-Reportage“ werden die Protagonisten gleich geduzt: „Der Vater Deines Kindes zahlt einfach keinen Unterhalt und Du willst für Dein Recht kämpfen? Dann melde Dich bei uns und erzähl Deine Geschichte“ heißt es in einer Anzeige.

Ein anderer Privatsender sucht nach „Müttern, die manchmal im ganz normalen Alltagswahnsinn die Geduld verlieren“ und nicht weiterwissen. „Mal ehrlich: wem geht das mit Kindern zwischendurch nicht so?!“, wurde aufmunternd dazugeschrieben.

Der WDR spricht von „Konsequenzen“

Ist diese Vorgehensweise sauber? Die Sender, die den quotenträchtigen Storyformaten eine Heimat geben, sind durch die Diskussionen um das WDR-Format aufgeschreckt. Es sollen Standards geschaffen werden, die die Beschaffung von Themen und vor allem Protagonisten nachvollziehbarer machen. Der WDR spricht von „Konsequenzen“. „Die Redaktion hält in Zukunft wichtige Informationen zur Protagonisten-Suche in Absprache mit dem Autorin, der Autorin systematisch schriftlich fest“, sagte eine WDR-Sprecherin.

Dafür habe die Redaktion einen Fragebogen entwickelt und werde diese Fragen mit den Autoren zu mehreren Zeitpunkten der Produktion und vor Drehbeginn besprechen. Dabei ginge es auch darum, wie der Autor die Protagonisten gefunden hat und ob diese bereits medial bekannt sind.

Für bestimmte ZDF-Produktionen („ZDFZeit, ZDF.reportage“, „37 Grad“) werden auch Casting-Agenturen eingesetzt, zum Beispiel, wenn für ein Ernährungsexperiment in einer Verbraucherdokumentation ein Zwillingspaar gebraucht wird, so ein Sprecher des Mainzer Senders. Produzenten und Autoren recherchieren auf den verschiedensten Plattformen nach geeigneten Protagonisten für ihre Dokumentationen. „Dabei werden keine Komparsen gesucht, sondern echte Fälle, zum Beispiel Familien, die in einem bestimmten Zeitraum umziehen. Die Echtheit dieser Fälle wird überprüft.“

Ähnlich der NDR (u.a. „Die Ernährungs-Docs“). „Für den Einsatz von Protagonisten in journalistischen Formaten gibt es redaktionelle Standards, zum Beispiel, das Vier-Augen-Prinzip, die Einbindung des Justitiariats, die redaktionelle Begleitung im gesamten Produktionsprozess, die stichprobenartige Sichtung von Rohmaterial, auch durch das Justitiariat, sowie eine Plausibilitätsbewertung durch Experten“, sagte eine NDR-Sprecherin.

Beim MDR, so ein Sprecher, sei es gängige Praxis, dass die verantwortlichen Redakteure die Kontaktaufnahme zu den Protagonisten hinterfragen, samt Plausibilitätsprüfung der Aussagen zu den Aufgaben. „Generell entspricht es nicht unseren journalistischen Standards, dass Protagonisten, die authentisch über ihre Schicksale und Erfahrungen berichten sollen, über kommerzielle Portale gesucht werden.“ Es sei inakzeptabel, wenn durch das Zahlen von Gagen das Risiko entsteht, dass der finanzielle Anreiz in den Vordergrund gerät.

Der MDR werde auch aufgrund der aktuellen Diskussionen alle Produzenten, die regelmäßig für den Sender arbeiten, darauf hinweisen, dass es keinen kommerziellen Anreiz geben darf, in journalistischen Produkten des MDR aufzutreten – und dass die Recherchewege nach Protagonisten in jedem Fall gegenüber den Redaktionen transparent gemacht werden müssen.

Thomas Frickel, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm, sagte, „solche Geschichten wie im WDR verspielen den Vertrauensvorschuss der Zuschauer“. Die öffentlich-rechtlichen Sender hätten eine besondere Verantwortung, die aus ihrem einzigen Daseinsgrund herzuleiten sei: ein anderes Programm als die private Konkurrenz zu machen. Heißt: Wer einen Spielsüchtigen sucht, der sucht nicht via KomparsenPlattform, der sucht in einer Spielbank.

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