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Belagert, bedrängt. Digitale Rhetorik kann Menschen aus dem Gleichgewicht bringen.

© Gestaltung: Tsp/Kostrzynski, Foto: Jordan Whitfielld/unsplsah

Digitale Rhetorik: Wenn der Nebensatz verschwindet

Tabubruch, Gegensatz, klares Ja oder Nein: Sprache und Medien müssen in Zeiten eines nahen Krieges mehr wollen als Aufmerksamkeits-Optimierer

Was läuft schief im Diskurs über den Ukrainekrieg, wie er von Politikern, Wissenschaftlern und vor allem auch von Journalisten geführt wird? Wie erklärt sich die hohe Temperatur, woher kommen die vergleichsweise scharfen Töne in der Diskussion, was ist der Grund für eine Verbissenheit, wie man sie sonst nur aus Religionskriegen kennt?

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Es spricht einiges dafür, dass der Diskurs von den typischen Merkmalen einer digitalen Rhetorik bestimmt wird, von einer Sprache, die sich, von Gefühlen getrieben, nicht von „Kleinigkeiten“ aufhalten lässt, die ihrerseits auf analoges Sprachverhalten verweisen.

Den Prozess, den die Realität von analog zu digital durchläuft, kann man vergleichen mit der Verwandlung eines Baumes in Sägespäne: Jeder Span ist so groß wie der andere, es gibt keine Leerstellen oder Hohlräume. Der Transport braucht, verglichen mit dem Baum, kaum Platz. Er kann rasch erfolgen. Digitalisierung reduziert, komprimiert, konzentriert die Sprache. Sie schneidet alles ab, was im Moment überflüssig erscheint. Das begünstigt das Zuspitzen.

Unvorstellbare Mengen an Material

Die Menge an Material ist unvorstellbar groß. Entfernungen spielen für den Transport keine Rolle. Auf der Basis solcher Eigenschaften entstand ein neues Modell für die menschliche Kommunikation. Es gibt neue Geräte, die die Daten verarbeiten und über das Internet verbreiten können. Es gibt neue Formen und Formate, die aus den Möglichkeiten der Datenbearbeitung und -weiterleitung erwachsen sind. Das Erlernen der neuen Techniken ist kinderleicht.

Doch es gibt nicht nur solche leicht identifizierbaren Effekte und Objekte. Es gibt, was leicht übersehen wird, folgenreiche Nebenwirkungen, die typisch sind für die digitalen Inhalte, die durch die digitalen Möglichkeiten sowohl in ihrer Menge als auch in ihren Strukturen die analogen Routinen substanziell verändern.

Eine solche Nebenwirkung, die durch die digital generierte, unübersichtlich-unübersehbare Menge von Botschaften hervorgerufen wird, ist der Zwang für den Kommunikator zur Erzeugung von Aufmerksamkeit. Er will sich mit seiner Botschaft von der Masse der anderen Botschaften unterscheiden, muss Wege und Methoden finden, um so etwas wie Adressatenoptimierung zu erreichen – sei es um der Relevanz der Botschaft oder sei es um der Zahl an Klicks willen, deren (nachweisbare) Menge die Plattform für bezahlte Werbung schafft.

Alles dreht sich um Aufmerksamkeit

Wie aber schafft man Aufmerksamkeit? Wie wird man unterscheidbar, aus der Menge herausragend, wie prominent? Ein schon in der analogen Welt erfolgreiches Instrument ist der bewusste Tabubruch. Man sage das Unsagbare oder Unsägliche – und wird wahrgenommen. Die Erfahrung zeigt, dass starke Gefühle, Abscheu, aber auch Drohungen oder Hass, ein Verzicht sogar auf das kleinste Blatt vor dem Mund, starke, polarisierende Reaktionen hervorrufen, zustimmende ebenso wie ablehnende. Die Welt wird gewissermaßen zu Paaren getrieben. Die Erfahrung zeigt auch, dass der Gegensatz als rhetorische Keule, als Mitte einer Botschaft eher Nutzer generiert, als dies mit abwägenden, differenzierenden Texten möglich wird. Gegensätze erleichtern es, die Dinge „kurz und gut“ zu machen. Mittel wie der Tabubruch oder der Gegensatz entfalten ihre volle Wirkung am besten, wenn sie auf das Abwägen, auf das Differenzieren verzichten.

Das Resultat ihrer Rhetorik beansprucht ein Höchstmaß an Klarheit. Differenzierende oder relativierende Erwägungen verdunkeln die Klarheit. Sie machen den Vertrieb langsam, nehmen der Botschaft ihre Dynamik, nehmen das Tempo aus der Verbreitung. Viele Worte erwecken den Verdacht des Nichtssagenden. Differenzieren heißt hier so viel wie Ablenken: Sand im digitalen Getriebe.

Auf diese Weise werden bestimmte Inhalte, die das digitale Tempo, die die Hitze der Zuspitzung ertragen, privilegiert. Andere Inhalte werden diskriminiert. Es spricht viel dafür, dass diese digitale Rhetorik durch ihren alternativen Ansatz früher oder später zu dem führt, was zu vermeiden sie zuvor pausenlos vorgegeben hat: die Spaltung ganzer Gesellschaften.

Würze in der Kürze

Der Micro-Blogging-Dienst Twitter ist ein Modell für diese Art von Kommunikation, deren Pointe, deren Würze in der Kürze liegt. Wer twittert, nimmt Abschied vom Mehrdeutigen. Er bringt die Dinge auf den Punkt. Er hat schon aus Platzgründen keine Möglichkeit, drum herumzureden. Der Befehl, die Verlockung heißt: Fasse dich kurz! Die Pointe der Kürze ist Klarheit und die Mutter der Klarheit ist Eindeutigkeit.

Ein großer Teil der digitalen Kommunikation, respektive der Kommunikatoren, sucht diese Eindeutigkeit, nicht einen unklaren Kant, sondern klare Kante. Es war kein Zufall, dass Donald Trump mit diesem „Modell“ seine politischen Essentials erfolgreich verbreitet hat. Er hat damit erreicht, dass sich an ihm die Geister scheiden mussten, dass man sich entscheiden musste: er oder keiner. Auch Elon Musk hat diese Qualität erkannt und kann sich sogar leisten, sie zu kaufen.

Bringt Twitter Menschen oder treibt sie der Kurznachrichtendienst auseinander?
Bringt Twitter Menschen oder treibt sie der Kurznachrichtendienst auseinander?

© REUTERS

Gegründet auf einer einzigen basalen Differenz, der von Eins und Null, meidet die digitale Kommunikation alles Diverse. Sie tendiert zu einem klaren Ja oder Nein. Es reicht ein „mag ich“ oder „mag ich nicht“, schwarz oder weiß, Mann oder Frau. Etwas Drittes, Viertes, Fünftes läuft gegen das digitale Denken. Diversity, die Vielzahl von Meinungen, die Vielfalt von Lebensformen, die differierenden Einstellungen, ein Leben mit Nebensätzen – das alles ist für die digital Geprägten offenbar zu komplex, zu kompliziert, zu langatmig, zu umständlich. Wer sich dem Zustimmen oder Ablehnen verweigert, wer eine Entscheidung auch nur verschiebt, verweigert sich der digitalen Klarheit. Die Digitalisierung fördert die Anschauung einer Welt, in der es nur Räume, aber kaum Zwischenräume gibt. Eine Welt, in der man nur zu den Gewinnern oder den Verlierern gehören kann. Tertium non datur.

Politikstil des Bundeskanzlers

Auf dem Hintergrund einer unterschiedlichen Bedeutung und Bewertung des digitalen Paradigmas erweist sich der Streit um den Politikstil und die Aussagen des Bundeskanzlers im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine auch als ein (verdeckter) Streit um die geltenden Vorstellungen und Absichten von Kommunikation. Scholz kommuniziert, was ihn für die digitalen Dynamiker alt aussehen lässt, überwiegend nach analogen Vorgaben und Routinen. Die meisten seiner Kritiker dagegen denken und handeln offenbar digital. Der Bundeskanzler und seine Berater waren wohl der Auffassung, es reiche, einen so alternativlosen Begriff wie Zeitenwende, der digitalem Denken durchaus entspricht – es gibt nur ein Zuvor und ein Danach – als politische Überschrift für das Kapitel Krieg zu wählen. Man glaubte, so dem manichäisch agierenden Zeitgeist Zucker zu geben, einem Geist, einer Stimmung, die sich von heute auf morgen total gewandelt hatte (obwohl außer viel Geld für die Bundeswehr sich noch nichts verändert hatte).

Aber Olaf Scholz hat sein digitalaffines erstes Statement nicht ausgebaut. Offenbar glaubte man nach der Proklamation dieser Zeitenwende im Kanzleramt, man habe dem Zeitgeist genug Aufmerksamkeit gewidmet und könne mit einem solchen Schlagwort Politik wie bisher auf eine eher altmodische Weis machen, mit den bekannten Mitteln einer analogen Rhetorik: abwägen, prüfen, verschieben, und sich, wenn es eng wird, auch mal verschweigen. Es hat einige Zeit gedauert, bis die Erkenntnis wuchs, dass ein solcher Ansatz nicht durchzuhalten ist. Es waren sogar die eigenen Leute, die ohne Rücksicht auf ihre Koalition die digitale Karte gespielt haben, bis hin zu der Vorstellung, man könne Waffen gewissermaßen wie bei dem Digitalisierungsgewinner Amazon heute bestellen und in drei Tagen haben. So ist es politischen Antithetikern, die im Anblick des Krieges und seiner Opfer von verständlichen Gefühlen beherrscht wurden, gelungen, den Kanzler altmodisch analog aussehen zu lassen. Sie haben ihn damit gezwungen, ein wenig digitaler zu werden, was wiederum der Klarheit nicht gedient hat.

Zählen nur Gegensätze?

Doch nicht nur Politiker haben die Auseinandersetzung auf das Format von Twitter reduziert. Auch für viele Journalisten besteht die Welt seit dem 24. Februar überwiegend aus Gegensätzen, aus dem Richtigen (das sie Tag für Tag kommentierend vertreten) und dem Falschen (das die verantwortlichen Politiker praktizieren). Sie reden, sonst ein Privileg von Populisten, schnell von einer Spaltung der Gesellschaft. Man ist Russe oder gehört zum anderen, zum guten Teil der Welt. Es gibt Frieden oder Krieg und nicht, wie bei Tolstoi, Krieg und Frieden Es gibt die Gestrigen, die im Umgang mit totalitären Regimen Wandel durch Handel für ein gutes Konzept gehalten haben und die jetzt öffentlich diesem Konzept abschwören müssen, wie denn überhaupt das Abschwören zu einer Tätigkeit der besonderen, reinigenden Art geworden ist: für die Politiker als Erste, ob amtierend oder in Pension, aber dann auch für alle anderen, die bisher kein eindeutiges Votum zustande gebracht haben, für Künstler, Sportler …

Es gibt Freunde der Ukraine – das sind die, die lieber heute als morgen ohne näher beschriebene Bedingungen schwere Waffen schicken wollen, und solche, die das könnten, aber alles verzögern, verschieben, vernebeln.

Es ist ja richtig: Der Kanzler hat ein Problem mit der Öffentlichkeit. Aber seine Kritiker haben es erst recht. Das wird verdeckt, weil sie als Twitterer das Ohr ihres Publikums haben, das Nebensätze als das Ausweichen vor der Wahrheit empfindet. Es ist problematisch, fortgesetzt Bekenntnisse anzumahnen, zu Personen so gut wie zu Positionen. Kein Wunder, dass ein Verweigerer wie Gerhard Schröder als Gott-ist-nicht-bei-uns gerankt wird. Wer nicht nach Kiew reist, verweigert Solidarität. Wer nicht sagt, dass die Ukraine den Krieg gewinnt, sondern ihn nicht verlieren wird, leidet unter Bekenntnisschwäche. Wer sagt, er sei deshalb nicht kriegsmüde, weil er sich nicht in einem Krieg befinde, nutzt, so die Unterstellung, Nebensätze wie Nebelsätze.

Der Kommunikationsstil des ukrainischen Botschafters Andrij Melnyk passt genau in den Stil der Talkshows.
Der Kommunikationsstil des ukrainischen Botschafters Andrij Melnyk passt genau in den Stil der Talkshows.

© IMAGO/Christian Spicker

Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk hat früh erkannt, dass man sein Publikum provozieren muss, dass man es vor Alternativen stellen muss, wenn man es für diesen Krieg interessieren will. Er hat die Digital-Falle aufgestellt und aus seiner Freude, dass viele in diese Falle gegangen sind, keinen Hehl gemacht. Kein Wunder, dass er, nachdem er frei von jeglicher Differenzierung mit kaltem Lächeln provoziert hat, ein gesuchter Gast in Talkshows geworden ist. Denn auch Talkshows sind nicht der Platz für Diversity, für das unvermeidlich Unklare, eher fürs Inqusitorische: Wann haben Sie aufgehört, Ihre Frau zu schlagen? Dabei ist der Beruf eines Diplomaten ein Inbegriff dessen, dass auch schlecht Ding Weile haben muss, dass Verträge über Jahre verhandelt werden müssen, dass es auf einzelne Worte ankommt. Diplomatie ist die Kunst, aus dem Differenzierten neue Fakten zu schaffen, eine Kunst, die derzeit keine Konjunktur hat.

Die Reduktion der Wirklichkeit auf überschaubare Gegensätze ist kommunikativ gesehen in jeder Hinsicht unzureichend. Man schließt damit Fragestellungen aus, ohne die es nur verzerrte Wirklichkeiten gibt. Man verhindert eine Beschreibung und die Kommentierung dessen, was sich zwischen den glasklaren Alternativen und den restlosen Bekenntnissen abspielt. Zu selten ist von Rechnungen die Rede, die eben nicht restlos aufgehen. Was tun, wenn es eines unschönen Tages nicht Sieger oder Besiegte gibt, sondern die Unklarheit eines Waffenstillstandes? Wer beschäftigt sich heute im Detail mit der Frage, was den Unterschied zwischen einem Krieg macht, der sich auf die ganze Welt auswirkt, und einem Weltkrieg? Was verbindet Flüchtlinge, egal aus welchem Land sie kommen?

Krieg ist mehr als These und Antithese

Ein so komplexes Ereignis wie ein Krieg lässt sich nicht im Eiltempo zwischen eine These und eine Antithese spannen, unter dem anschließenden Verzicht auf jegliches Bemühen um eine komplizierte, glanzlose und weithin unklare Synthese.

Das Eindeutige hat daher derzeit einen fraglosen Lauf. Das Zögerliche dagegen muss sich begründen. Doch es versteht sich nicht von selbst, dass das analoge Kommunizieren von einer digitalen Rhetorik dauerhaft verdrängt werden könnte. Am Ende des Tages, wann immer das auch sein wird, wird die Attraktivität einer digitalen Rhetorik nicht mehr verhältnismäßig sein. Der große Kommunikationsforscher Paul Watzlawick weist in seinem Buch „Menschliche Kommunikation“ darauf hin, dass Kommunikationsstrukturen, „sobald sie einmal zustande gekommen sind“, ein Eigenleben haben, „demgegenüber die einzelnen Individuen weitgehend machtlos sind“. Die digitale Kommunikation erweist sich in diesen Monaten als eine neue Macht. Sie zu kontrollieren, ist eine Aufgabe für ausgerechnet diejenigen, die jetzt noch von ihr profitieren.

Norbert Schneider

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