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Bin ich nur in deinem Kopf? Lee Sun-kyun (links) als genialer Gehirnforscher Sewon und Park Hee-soon als Privatdetektiv.

© Apple TV+

Die Serie „Dr. Brain“ auf AppleTV+: Wie ich lernte, mein Gehirn zu lieben

„Who are we?“ „Are we inside your brain?“ Kim Jee-woon und sein genialer Serientrip zwischen SciFi, Mad Scientist und Seelenerkundung

Explosionen, Schweben, Überwindung der Schwerkraft, Aufhebung der Grenzen, die die Physik uns setzt – den Verheißungen des Kinos hält keine Wirklichkeit stand. Vom Pariser „Grand Cafe“, indem 1895 ein Zug auf der Leinwand zugerast kam, woraufhin die Zuschauer panikartig flüchteten, bis zum Paralleluniversum, das die Geschwister Wachowski in den 1990ern in ihrer „Matrix“ entwarfen, Fiktion und Imagination befreiten sich in 100 Jahren Kino immer mehr von den Fesseln der Realität. Die immer findigeren Streamingserien legen da jetzt noch einen drauf.

In diesem Zusammenhang muss auch das neue Werk und die unglaubliche Idee des südkoreanischen Regisseurs Kim Jee-woon („A Tale of two Sisters“) gesehen werden: die Übertragung der Erinnerung von einem Menschen auf den anderen, letzten Endes die Vermischung der Existenzen. Jee-woons „Dr. Brain“, das Auswüchse der Gehirnforschung mit einer rührenden Vater-Sohn-Story vermischt, sticht mit diesem Ansatz aus dem Regal der Streamingserien in diesem Monat jedenfalls so sehr heraus, dass man nach sechs Folgen nur noch rufen würde: Weiter! Weiter! Nicht aufhören! („Dr. Brain“, AppleTV+, sechs Folgen, seit Donnerstag, neue Folgen im wöchentlichen Rhythmus)

Worum geht es: Um den brillanten Hirnforscher Sewon, dessen Frau und Sohn Opfer eines mysteriösen Unfalls wurden. Sewon ist sicher, dass sein Sohn Doyoon noch lebt, irgendwo versteckt gehalten wird. Um das Rätsel zu lösen, synchronisiert der Wissenschaftler sein geniales Gehirn mit dem von Toten, vor allem mit dem seiner komatösen Frau, um in ihren Erinnerungen nach Hinweisen zu suchen. Sewon muss dabei hinnehmen, dass die Toten irgendwann eine Art Eigenleben in seiner Vorstellung führen, wo dann zwischen Realität und Halluzination für ihn (und den Zuschauer) kaum noch zu trennen ist.
Immerhin, der Wissenschaftler kommt mihilfe dieser so genannten Brain Syncs einer Geheimorganisation auf die Spur, die, ohne hier all zu viel zu verraten, in Menschenexperimenten das Vorankommen der Gehirnforschung über das Wohl der (jüngeren) Probanden stellt. Was wäre möglich, wenn dein gesammeltes Denken und Erinnern nach deinem Ableben per Knopfdruck ins Gehirn eines fremden Menschen übertragen werden könnte? so die Frage eines größenwahnsinnigen Wissenschaftlers, der einfach nicht so spurlos sterben und von der Weltbühne abgehen will. Dr. Seltsam, oder wie ich lernte, mein Gehirn zu lieben.

Eine weibliche Ermittlerin, stille Kraft und Ruhepol

Es geht auch um die Verantwortung der Wissenschaft. Sewons Fähigkeit, mit seinen Experimenten Gehirnwellen zu hacken, zunächst nur bei Mäusen, später bei den Hirnströmen von Toten, gerät in die falschen Hände. Einmal sagt dieser größenwahnsinnige Dr. Myung zu Sewon: „Where are we?“ „Who are we?“ „Are we inside your brain?“

Unmögliche Fragen, die in letzter Konsequenz das Weiterleben der eigenen, älteren, kranken Person nach dem körperlichen Verfall in einem jungen Menschen impliziert. Das Ziel: Unsterblichkeit. Nur: Wer stellt sich da überhaupt zur Verfügung? Wer macht da freiwillig mit? Sind Daten wichtiger als Menschen? Sewons allmähliche Entlarvung dieser übermenschlichen Ansprüche und Machenschaften, in die er nicht ganz unfreiwillig verstrickt zu sein scheint, ist das eine Thema.

Mindestens genauso bewegend und bannend aber die treibende Vater-Sohn-Geschichte, die starke Bindung zwischen Sewon und Doyoon (übrigens auch die zwischen Sewon und Dr. Myung), mit der sich „Dr. Brain“ in dieser kulturpessimistischen, fortschrittsungläubigen Abhandlung eine Art menschliche Hintertür einbaut, die, fast kitschig, von der schier grenzenlosen Macht der Liebe kündet.

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Dass das Ganze dann am Ende nicht kitschig wirkt, ist auch der Verdienst zweier Hauptdarsteller: Lee Sun-kyun, spätestens seit dem Oscar-Abräumer „Parasite“ weltberühmt, als verschlossener, sich abkapselnder Sewon, der zwischen Staunen und Entschlossenheit, Zärtlichkeit, Trauma und Wut wandelt und nebenbei – Brain Snyc sei dank – auch noch ein paar ungeahnte Martials-Art-Künste zeigen darf sowie Seo Ji-hye als Lieutenant Choi.
Spätestens hier hat uns Jee-wons „Dr. Brian“ gekriegt: eine weibliche Ermittlerin, stille Kraft und Ruhepol in dieser über sechsstündigen sich stetig steigernden emotionalen Achterbahnfahrt, mit langatmigen Einstellungen und Totalen, mit Nahen und Schockelementen, blutigen Farben und fliegenden Köpfen. Exploitationskino, nicht zimperlich, schon auch mit Schauwerten.

Das Ganze ist sicher nicht all zu weit entfernt von Sehgewohnheiten einer wegen des jüngsten Serienhits „Squid Game“ nach Südkorea blickenden jungen Publikums.
Die sollten sich aber bei „Dr. Brain“, basiert auf einem beliebten Webtoon von Hongjacga, nicht verlaufen. Das ist kein neues „Squid Game“. Ein bisschen „Sixth Sense“, ein wenig „Total Recall“ „Being John Malkovich“ und „Matrix“. Kein Trash.

Ein kunstvoll in Szene gesetztes Serien-Meisterwerk, das Platz für philosophische und psychologische Fragen lässt, bei allem was aufgefahren wird: Amplituden, Hirnfrequenzen, Verfolgungsjagden, Shoot Downs, Brainwaves, Martial Arts, Ehekrisen und Regungen der Seele. Wer am Ende dieses fast poetischen Sci-Fi-Dramas keine feuchte Augen bekommt, der hat kein Herz.

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