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Im „Labor für Lügenerkennung“ steht ein Lügendetektor bereit, damit Wahrheit und Lüge mit wissenschaftlichen Verfahren eindeutig ermittelt werden können.

© dpa

Die Lüge von heute kann morgen die Wahrheit sein: Alles nur „Fake“!?

Eine Ausstellung im Deutschen Hygiene-Museum setzt Lüge und Wahrheit ins interaktive Verhältnis.

Das fängt ja schon mal verwirrend an. Hans Wahr, der Chefbeamte im „Amt für die ganze Wahrheit“, fährt zwei Studien auf. Nach der ersten lügt jeder Mensch 200 Mal am Tag, nach der zweiten 1092 Mal im Jahr. Und Männer würden deutlich öfter lügen als Frauen. Was ist davon zu halten, was davon ist Fake, was davon Wahrheit?

Der Besucher der soeben im Deutschen Hygiene-Museum in Dresden eröffneten Ausstellung „Fake. Die ganze Wahrheit“ ist nach dem Intro auf die Fortsetzung im interaktiven Parcours gespannt. Der Kurator, Philosoph Daniel Tyradellis, hat ihn zuerst für das Stapferhaus in Lenzburg/Schweiz konzipiert und jetzt mit seinem Team für die Dresdner Version erweitert und aktualisiert.

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Im Museum wurde ein postknallgelbes „Amt für die ganze Wahrheit“ installiert. Die Behörde besteht aus neun Abteilungen, immersiv sind sie arrangiert, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind stets herausgefordert, ihr eigenes Verhältnis zu Wahrheit und Lüge zu finden. Die individuelle Erkenntnis soll sich über das persönliche Erlebnis einstellen.

Zum Auftakt gibt es ein Video mit besagtem Hans Wahr alias Martin Wuttke (dem breiten Publikum noch als Leipziger „Tatort“-Kommissar Andreas Keppler in Erinnerung). Der Schauspieler schlüpft vor jedem Raum in immer neue Beamtenrollen und illustriert dabei mal witzig, mal ernsthaft die Bedeutung des jeweiligen Themas. So gibt es eine „Abteilung für strategische Täuschung“, eine „Kommission für Glaubwürdigkeit“, ein „Labor für Lügenerkennung“ und eine „Medienstelle für alte und neue Fake News“.

Tricky, sprich besonders herausfordernd, wird es in der „Fachabteilung für Lügenerziehung und angewandte Pinoccioforschung“. Hier wird ein überdimensioniertes Brettspiel angeboten. Sagen die Besucher in Entscheidungssituationen wie einer Polizeikontrolle oder einem anstehenden Familienbesuch immer die Wahrheit, hat man/frau/divers in vier Zügen den Raum komplett durchmessen, ist also am „Exit“ angelangt, nach Tyradellis’ Worten also am Tod, Ende, Ausgang.

Ein Leben in Wahrheit - wie langweilig!

Ein Leben in solcher Reinheit und Klarheit und Wahrheit hätte freilich einen riesigen Nachteil: eher solitär, mehr einsam, sicher langweilig. Für den aber, der Kompromisse mit der Wahrheit eingeht, sie umgeht, sich verheddert, für den wird es lebendig – und zweifellos menschlich. Ehrlich, will man immer die ganze Wahrheit sagen oder nicht doch lieber flunkern? Und wenn eine Lüge kollektiv geteilt wird, wird sie dann nicht gar zur geteilten Wahrheit?

Wer sich seiner eigenen Wahrheitsfindungskompetenz nicht sicher ist, der kann sich im „Labor der Lügenerkennung“ einem Test an einem Lügendetektor unterziehen. Lustig bis peinlich, weil das umstehende Publikum an Lüge und Wahrheit teilnimmt.

Die Lüge ist so alt wie die Wahrheit, ihre Spielart der Fake News ist neueren Datums und von dringlicher Aktualität. Sehr wahrscheinlich darf sich der ehemalige US-Präsident Donald Trump des Ursprungs rühmen. Er hatte 2017 Medien wie CNN oder die „New York Times“ beschimpft als „you are fake news“. Eine Animation in der Schau zeigt die schnelle und globale Ausbreitung dieser Aussage, der Trump-Spruch darf als Katalysator des vermehrten und nie entschiedenen Kampfs zwischen Lüge und Wahrheit gelten. Deutlich wird, dass die Lüge offenbar immer schneller war und ist und mit dem Aufkommen der neuen Medien schlagartig an Ausbreitung und Gewicht gewonnen hat. Es mag Trost in der Erfahrung liegen, dass Fake News, alternative Fakten, dass Desinformationen jedweder Art keine Errungenschaft des Twitter-Zeitalters sind, sondern eben viel älter und mit der Vervielfältigung der Medien einhergehen.

Die Abteilung für „Lügenerziehung“ und Pinocchioforschung“ fragt nach den Skrupeln, zu lügen.
Die Abteilung für „Lügenerziehung“ und Pinocchioforschung“ fragt nach den Skrupeln, zu lügen.

© Huber

Die Ausstellung ist ehrgeizig darin, das Verhältnis von Lüge und Wahrheit stets auf den Besucher zurückzuspiegeln. In der „Zentralen Lügenanlaufstelle“ wird gefragt, welche Lüge ist verzeihlich, welche tödlich? Welche ist womöglich sogar notwendig? Eine „Prüfstelle für Fälschungen“ geht der Frage nach, warum Originale ihren ganz eigenen Reiz haben und gefälschte wie Parfüms oder Fußballertrikots trotzdem ihren Reiz haben. Von Impfausweisen ganz zu schweigen.

Klar ist: Die Welt will auch betrogen sein, belogen werden. Die Lüge braucht immer einen, der sie ausspricht, dito die Wahrheit. Man kann die Lüge einfach verurteilen, schafft sie damit jedoch nicht aus der Welt. Und welche Wahrheit ist von ewigem Bestand? Wenn, nur zum Beispiel, eine Wissenschaft immer nur die eine Erkenntnis festklopfen will, verkümmert der Fortschritt. Lüge muss nicht sogleich das Dementi einer Wahrheit sein, sie kann auch ihre Verwandtschaft, sprich den positiv gemeinten Zweifel aktivieren. Und der ist mindestens so Motor jeder persönlichen wie gesellschaftlichen Bewegung wie die bloße Neugier.

Keine Feier der Fake News

Damit kein Irrtum entsteht: „Fake. Die ganze Wahrheit“ ist keine Feier von Fake News, Fake-Profilen, Fake-Produkten. Desinformationen werden als eine Gefahr für die Demokratie gezeigt, weil sie zur Destabilisierung einer Gesellschaft führen können. Derartige Wirkungsmächte werden aber nicht zeigefingerhaft plakatiert, die Schau ist subversiver angelegt. Ihr wesentliches Instrument sind Fragen, die an die Besucher oder vom Besucher selbst gestellt werden.

In der ausgezeichneten Begleitbroschüre (kostenlos im Museumsshop erhältlich) wird die Philosophin Hannah Arendt zitiert: „Alleine die Fähigkeit zu lügen bestätigt, dass es etwas wie Freiheit gibt.“ Ein kühner, falscher, ein richtiger Satz? „Fake. Die ganze Wahrheit“ stellt sie in den Museumsraum. Der Chefbeamte Hans Wahr sagt zum Finale seiner Video-Einführung: „Die Wahrheit braucht dich!“ Dringender denn je.

„Fake. Die ganze Wahrheit“, Deutsches Hygiene-Museum Dresden, bis 5. März 2023. Weitere Infos unter www.dhmd.de

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