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Gerettet. Die zwölfjährige Sabine Dardenne wurde in ihrem Versteck gefunden.

© RTBF

Der Fall Dutroux als Arte-Doku: Aufwühlende Zeitreise

„Unfassbar“: Eine vierteilige Arte-Dokumentation rekonstruiert den Fall des Kinderschänders Marc Dutroux.

Wer alt genug ist, um die 1990er Jahre bewusst erlebt zu haben, wird sich womöglich an diese Bilder erinnern: Wie zwei Mädchen von Polizisten in Zivil aus einem Haus im belgischen Marcinelle, einem Stadtteil von Charleroi, geführt und in aller Eile in ein Auto gesetzt werden. Wie die weinenden, offensichtlich verstörten Kinder von ihren Eltern in Empfang genommen werden, inmitten einer jubelnden Menschenmenge und vor zahlreichen Kameras. Die zwölfjährige Sabine und die zwei Jahre ältere Laetitia konnten an diesem 15. August 1996 aus der Gewalt von Marc Dutroux befreit werden.

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Aber in den nächsten Wochen wurden die Leichen der beiden im Alter von acht Jahren entführten Mädchen Julie und Melissa sowie die von An (17) und Eefje (19) gefunden, die alle vier schon seit dem Sommer 1995 vermisst worden waren. Deren Eltern hatten ein Jahr lang unermüdlich die Öffentlichkeit mobilisiert und auch auf Versäumnisse bei den Ermittlungen hingewiesen. Die gewaltige Anteilnahme, die den Opferfamilien entgegenschlug, verwandelte sich zunehmend in Empörung und Wut. Am 20. Oktober 1996 demonstrierten Hunderttausende beim „Weißen Marsch“ durch Brüssel.

[„Unfassbar – Der Fall Dutroux", vierteilige Dokuserie, Arte, Mittwoch, von 22 Uhr 50 bis 0 Uhr 45 , Nacht vom 9. auf den 10. Juni, 1 Uhr 15 bis 3 Uhr 05]

„Unfassbar“ ist ein enorm ergreifendes Werk, weil es von Beginn an die Eltern der vermissten und später getöteten Kinder in den Mittelpunkt rückt. Auch sorgt die chronologische Erzählweise für eine große (An-)Spannung, die das Publikum geradewegs in jene alptraumhafte Zeit zurückversetzt. Regisseur Joeri Vlekken und drei weitere Autorinnen und Autoren halten sich an die Fakten, nähren nicht den Mythos von einem pädophilen Netzwerk in den höheren Kreisen. Denn überzeugende Beweise dafür konnten auch in dem Prozess gegen Dutroux und drei weitere Angeklagte nicht präsentiert werden.

Das umfangreich vorhandene Fernsehmaterial wird wirkungsvoll zu einer aufwühlenden Zeitreise in dieses zunehmend aufgewühlte Land montiert. Kommentare aus dem Off erübrigen sich angesichts der Wucht der Ereignisse, nur wenige, aktuell geführte Interviews werden perfekt in die Abfolge der historischen Bilder geschnitten. Aber der Vierteiler wäre noch überzeugender geraten, wenn er mehr Raum für einen reflektierenden Blick gelassen hätte.

Hat der Fall das Land verändert?

Was man leider nicht erfährt: Ob der Fall des Kinderschänders Marc Dutroux das Land tatsächlich verändert hat. Welche Lehren wurden in Belgien aus dem – insbesondere in der dritten Serien-Folge („Revolutionen“) offenbarten – Versagen von Polizei und Justiz gezogen? Wie hat sich der gemeinsam erlittene Schock auf das häufig so gespaltene Land ausgewirkt? Ein ausländisches Publikum, das mit den aktuellen Gegebenheiten in Belgien nicht vertraut ist, bleibt etwas ratlos und mit vielen offenen Fragen zurück.

Dass Gewalt gegen Kinder kein belgisches Phänomen und der Fall Dutroux kein gruseliger Rückblick in eine längst vergangene Zeit ist, muss man angesichts der gerade wieder im Netz entdeckten Mengen an Bildern und Filmen mit kinderpornographischen Inhalten nicht betonen. Allerdings ist die Serie auch aus medienhistorischer Sicht interessant, denn Mitte der 1990er Jahre musste die Welt noch ohne Mobiltelefone und Rund-umdie-Uhr-Nachrichten im Internet auskommen. Die klassischen Medien, insbesondere das Fernsehen, waren noch die Hüter des öffentlichen Diskurses. Doch auch ohne soziale Netzwerke konnte es passieren, dass voreilig über angebliche Leichenfunde berichtet wurde. Die Journalisten „sollten aufhören, jeden Unsinn zu erzählen“, rief ein verärgerter Ermittler im Sommer 1996 der wartenden Medienmeute zu.

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