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Der Journalist Claas Relotius hat zweieinhalb Jahre nach Bekanntwerden des Betrugsskandals beim "Spiegel" erstmals ausführlich in einem Interview über seine gefälschten Texte gesprochen.

© dpa

Claas Relotius äußert sich erstmals öffentlich: „Wahrscheinlich waren die allerwenigsten Texte korrekt“

Claas Relotius war ein gefeierter Journalist, dann stürzte er über seine Betrügereien. Jetzt hat er sein erstes Interview nach dem Skandal gegeben.

Der Journalist und frühere „Spiegel“-Reporter Claas Relotius hat zweieinhalb Jahre nach Bekanntwerden des Betrugsskandals bei dem Nachrichtenmagazin erstmals ausführlich in einem Interview über seine gefälschten Texte gesprochen.

Der Zeitschrift „Reportagen“ aus der Schweiz sagte er auf die Frage, wie viele seiner insgesamt 120 verfassten Texte in seiner Journalistenzeit korrekt waren: „Nach allem, was ich heute über mich weiß, wahrscheinlich die allerwenigsten.“ Er habe „in der unverrückbaren Überzeugung geschrieben, es würde bei der Erzählform Reportage keinen Unterschied machen, ob alles 1:1 der Realität entspricht oder nicht“.

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An anderer Stelle drückte Relotius sein Bedauern aus: „Ich habe offensichtlich sehr viel Verantwortungsgefühl ausgeschaltet, am meisten gegenüber Kollegen, aber auch gegenüber realen Menschen, über die ich geschrieben habe. Ich hatte beim Schreiben nie niederträchtige Absichten, und ich wollte auch niemanden verletzen, indem ich etwas Falsches schreibe. Dass ich das getan habe, bereue ich am meisten.“

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Das Schweizer Magazin „Reportagen“ veröffentlichte am Dienstag auf seiner Webseite ein Interview mit mehr als 90 Fragen an den früheren „Spiegel“-Reporter, der Ende 2018 die Medienbranche schwer erschüttert hatte.

Relotius hatte für den „Spiegel“ Reportagen geschrieben, die fehlerhaft waren, und die zum Teil erfundene Szenen, Gespräche und Ereignisse enthielten. Er war als Journalist mit Preisen überhäuft worden und genoss hohes Ansehen.

Der „Spiegel“ machte den Betrugsfall selbst öffentlich und arbeitete diesen akribisch auf. Relotius, damals Anfang der Dreißiger und für das Gesellschaftsressort tätig, hatte die Fehler laut „Spiegel“ eingestanden. Seine Karriere bei dem Nachrichtenmagazin war vorbei. Relotius war in seiner Journalistenzeit für mehrere Häuser tätig, darunter die Deutsche Presse-Agentur (dpa) und der Tagesspiegel.

Darf man einem Lügner glauben?

Im Editorial der neuen Ausgabe von "Reportagen", in der das Interview am 3. Juni in einer kürzeren Form von immerhin noch rund 20 Seiten erscheinen wird und das der dpa vorliegt, heißt es: „Auch wir waren mit fünf Texten betroffen.“

Die Redaktion beschreibt mit Blick auf das Interview, dass sie sich auch gefragt habe, ob man einem „überführten Lügner“ trauen könne und ihm nicht „auf den Leim“ gehe. Das Magazin mit Sitz in Bern entschied sich für das Interview. Es entstand laut Zeitschrift in den vergangenen Wochen.

Der Ex-Reporter spricht darin detailliert über ganz konkrete Fälschungsfälle. Es geht in weiten Strecken auch um sein Leben nach dem großen Knall und Fall. Er berichtet ausführlich von seiner Therapie, das Magazin bekam nach eigenen Angaben Einblick in Dokumente wie einen Klinikbericht und erhielt auch psychiatrische Informationen. Relotius geht auf das Buch "Tausend Zeilen Lüge: Das System Relotius und der deutsche Journalismus" seines damaligen Kollegen Juan Moreno ein.

Dieser hatte den Skandal gegen viele Widerstände aufgedeckt, als er Fakten zu einer Relotius-Reportage nachrecherchierte und ihn damit schließlich enttarnte. Die Produktionsfirma Ufa Fiction will auf der Grundlage des Buches einen Film drehen.

Noch keine Klage gegen Moreno eingereicht

Nur wenige Wochen nach Erscheinen des Buchs von Moreno im Herbst 2019 war über einen Bericht der Wochenzeitung „Zeit“ bekanntgeworden, dass Relotius mit einem Anwaltsschreiben gegen den Autor vorging. Bislang blieb offen, ob es auch zu einer Klage kommen wird.

Im jetzigen Interview sagte Relotius auf die Frage, warum bis heute die Klage nicht eingereicht sei: „Ich habe mich nicht in der Position gesehen, jemanden zu verklagen, ohne mich selbst meiner viel größeren Schuld zu stellen.“

Im Interview sagte Relotius auf die Frage, wie die Zukunft aussehe, er habe sich zweieinhalb Jahre lang vor allem damit beschäftigt, die Vergangenheit zu verstehen.

Ein großer Teil dreht sich um die Umstände des Fälschens und die damalige psychische Verfassung des jungen Autors. Beispiele: „Das hemmungslose Schreiben hatte für mich eine ganz egoistische Funktion. Es hat mir geholfen, Zustände, in denen ich den Bezug zur Realität verloren habe, zu bewältigen, zu kontrollieren und von mir fernzuhalten. Schon lange vor dem Journalismus.“ Er habe diesen Beruf auf eine Art von Anfang an „missbraucht“.

An anderer Stelle: „Ich kann das nicht erklären, aber ich hatte jahrelang nie Angst, nie Zweifel, auch nie ein schlechtes Gewissen.“ Er betonte, "je größer meine Verunsicherung war, desto perfekter wurden die Texte.“ Mehrmals machte er im Interview deutlich, nicht aus karrieristischem Kalkül gehandelt zu haben.

Auf die Frage des Magazins mit Blick auf die Journalistenpreise und dem Vorwurf, auf „Effekt“ geschrieben zu haben, antwotete er: „Natürlich wollte ich gute Texte schreiben. Ich habe beim Schreiben aber nicht daran gedacht, was wie irgendwo ankommt. Ich war immer nur mit dem jeweiligen Thema und mit mir beschäftigt.“ (mit dpa)

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