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Bombenalarm: Otto (Jannik Schümann, l.) will Emil in den Bunker verlegen. Professor Sauerbruch (Ulrich Noethen) ist gegen eine Verlegung des frisch operierten Jungen.

© ARD/Julie Vrabelova

"Charité"-Fortsetzung: Halbgott in Grau

Ein Fassungsloser in fassungslos machenden Zeiten – die zweite Staffel der Erfolgsserie „Charité“.

Die Fortsetzung der Erfolgsserie „Charité“ handelt von der moralischen Selbstvergiftung der deutschen Medizin unter den Nazis. Zusammen mit einer glänzenden Dokumentation konzentriert sich die historische Fernsehanstrengung in der ARD auf die Verstrickungen des Chirurgen Ferdinand Sauerbruch. Ulrich Noethen verkörpert eindringlich einen zerrissenen Medizinpatriarchen. Dann heute Abend, gleich anschließend: „Die Charité – Medizin unterm Hakenkreuz“ von Dagmar Wittmers: Schaurig ist’s da, durchs Archiv zu gehen. Der Zuschauer stößt in dieser Dokumentation auf die Selbstherrlichkeit verblendeter deutscher Ärzte in weißer Schamlosigkeit.

Gezeigt werden Ausschnitte aus einem „Unterrichtsfilm“ der Charité -Nervenklinik, entstanden vermutlich Ende 1936. Dr. Gerhard Kujath, SA-Mann, nutzt seine Karrierechance in der Vorzeigeklinik und schwingt das Mädchen Valentina durch die Luft. In den Bewegtaufnahmen geht es um die Diagnostik einer Wasserkopfbildung. Valentina ist vermutlich ein „Reichsausschusskind“. So nennt man das im NS-Doppelsprech, wenn man „Schmarotzerkinder“ meint, von denen sich der edle deutsche Volkskörper nach einer Prüfung für immer trennen muss. Aber halt: erst noch vor dem „Gnadentod“ ein paar nützliche Tests mit Tuberkuloseimpfungen.

Die Charité, deren Koryphäen einst die Menschheit von der Diphtherie befreiten, hat offiziell nichts gegen den Kinderschwinger Kujath und gleichgesinnte Ärzte. Die deutsche Politik nach dem Krieg auch nicht. Der braune Heiler wird als Leiter der Kindernervenklinik für etwa vier Jahre unbehelligt weiterarbeiten. Am 5. Oktober 1955 lässt er sich in der Charité bestätigen, dass seine Kaderakte vermutlich verloren gegangen ist.

Sauerbruch, 1875 in Barmen geboren, Frontarzt im Ersten Weltkrieg, als Prominentendoktor am Sterbebett Hindenburgs, beherrscht die Kunst, in der Nazi-Propaganda-Öffentlichkeit Figur zu machen. Die Weltkrieg-eins-Uniform samt Eisernem Kreuz blitzt bei großen Anlässen unter dem weißen Kittel des großen Doktors hervor: Die weiße Kleidung zum heilenden Skalpell soll zum Symbol für erfolgreiches Töten im Krieg passen. Unfassbar auch, was sich die Nazi-Architektur als Neubau der Charité vorstellt: ein unförmiges Mausoleum, eine Art Abflughalle ins ewige Leben des nie krank werdenden deutschen Volkes.

Aber das hyperaktive moderne Fernsehen möchte seine Kunden mit dem Gefühl der Fassungslosigkeit nicht unbegleitet lassen. Es bietet seine Dienste an. Der verantwortliche Sender MDR und Produktionsfirma Ufa fiction haben Erfolge im Ärztegenre. Die erste „Charité“ -Reihe über die heldenhaften Gründungsjahre war ein großer Publikumserfolg. Ein zackiger Kaiser Wilhelm zwo, geniale Ärzte-Düsentriebs, hingebungsvolle Pflegefrauen, soziale Benachteiligung in homöopathischen Dosen, jede Menge Liebesleid und Schicksal – die aus heutigen Ärztesoaps geläufigen Charakter- und Melodrama-Muster waren „in aller Freundschaft“ nützliche Helfer, das breite Publikum für Medizingeschichte zu interessieren. Die Herstellung von Fassungslosigkeit stand nicht auf dem Stundenplan.

Braucht es da noch die Wirkungsverstärkung?

Aber nun, in einer Epoche des schlimmsten Ethikverrats, stellen sich für Buch (wieder Dorothee Schön und Sabine Thor-Wiedemann) und Regisseur Anno Saul schwierigere Herausforderungen: das „In aller Freundschaft“-Publikum (mehr als fünf Millionen Zuschauer jede Woche) für eine „In aller Feindschaft“-Position zu gewinnen. Vom melodramatischen Weißkittel-Unterhaltungspotenzial zu naschen, ohne den kollektiven Wahnsinn der Nazi-Zeit unterm Teppich süffig erzählter Schicksalsstorys verschwinden zu lassen. Um das Leben Ferdinand Sauerbruchs hat die zweite Staffel belegte und erfundene Biografien gerankt.

Nicht fiktiv: Adolphe Jung (Hans Löw), von Sauerbruch angeforderter Straßburger Kollege und Mann des französischen Widerstands, als aktive Spione für die Alliierten Sauerbruchs Sekretärin Maria Fritsch (Sarah Bauerett) mit Freund Fritz Kolbe (Marek Harloff) vom Auswärtigen Amt. Auf Schurkenseite erscheint der Leiter der Charité-Psychiatrie, Max de Crinis (Lukas Miko), mit österreichischem Charme immer zur Stelle, wenn es Nazigegner auszulöschen gilt.

Erfunden, meist gut erfunden, sind die jüngeren Figuren, die Schicksale ausleben müssen, die von der Nazi-Ideologie verursacht werden. Da gibt es die schwangere Jungärztin Anni Waldhausen (Mala Emde), die bei Hitler-Anbeter de Crinis über das Thema „Psychiatrische Diagnostik bei Verdacht auf Selbstverstümmelung“ promovieren möchte und sich zunächst als gläubige Nazi-Anhängerin an der Jagd auf Drückeberger in den Charité -Betten beteiligt. Dann ein Kind mit Wasserkopf gebiert und erleben muss, wie Mann Artur (Artjom Gilz), ein Euthanasiebefürworter, die Tochter Karin den Tötungsanstalten der Nazis ausliefern will.

Ein Hauptstrang ist die homosexuelle Liebe zwischen Annis jüngerem Bruder Otto (Jannik Schümann), Famulant im Sauerbruch-Krankenhaus, und dem Pfleger Martin (Jacob Matschenz). Eine lebensgefährliche Liaison in der homophoben Nazi-Welt, hoch gefährdet durch die eifersüchtige braune Krankenschwester Christel (Frida-Lovisa Hamann). Historisch wird es ohne Fiktionen in den letzten Kriegstagen spannend, wenn Volkssturmkinder marodieren und russische Soldaten kaum von der Rache an den Deutschen abzuhalten sind.

Braucht es da noch die Wirkungsverstärkung durch zusätzlich erfundene Melodramatik? Wo ist der Ort, im Wirbel der Handlungsstränge die reinigende Wirkung der Fassungslosigkeit zu finden, dieses Schockerlebnis des Nichts, zu dem die väterlichen und mütterlichen Gewissheiten der Ärzteunterhaltung werden, wenn der Zuschauer erlebt, wie sich die verblendete Medizin vom Menschen feindselig abwendet? Die Antwort lautet: im großartigen Spiel von Ulrich Noethen, der sich zum Halbgott in Grau verfinstert. Zu einem, der aus dem verbrecherischen Wahnsinn um ihm herum mit aufgerissenen Hasenaugen einen Verletzten nach dem anderen operiert. Der mit dem Skalpell retten will, was er durch politisches Wegschauen angerichtet hat. Der dem Widerstand gegen Hitler Unterschlupf bot, aber sich nicht zur Tat durchringen konnte. Ein Fassungsloser in fassungslos machenden Zeiten.

„Charité“, Dienstag, ARD, 20 Uhr 15, die ersten beiden von sechs neuen Folgen. „Die Charité – Medizin unterm Hakenkreuz“, ARD, 21 Uhr 45.

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