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Gegen Obrigkeiten. Telegram-Gründer Pawel Durow, 35, sieht sich als Unterstützer von Freiheitsverfechtern, die sich in totalitären Regimen zur Wehr setzen.

© picture alliance/AP Photo

„Ausweichplattform für rechtsextreme Propaganda“: Telegram - eine Verschwörungsschleuder?

Telegram gilt als Messenger-Alternative zu WhatsApp. Seit sich dort immer mehr Rechte tummeln, ist sein Ruf zweifelhaft. Zu Recht?

Am Montag warnt der Rechtsextremist Sven Liebich vor kriminellen Migranten. Am Mittwoch erklärt Xavier Naidoo, warum es verschiedene Jahreszeiten gebe, obwohl die Erde doch eine Scheibe sei: „Die Sonne bewegt sich konstant von innen nach außen und wieder zurück.“

Am Donnerstag behauptet Attila Hildmann, Kommunisten und Freimaurer hätten Australien übernommen. Am Freitag wirbt die ehemalige „Tagesschau“-Sprecherin Eva Herman für Bücher aus dem rechten „Kopp“-Verlag, während Sven Liebich erneut vor kriminellen Migranten warnt. Alles in allem eine ganz normale Woche auf Telegram.

Vor einem Jahr war der Messenger-Dienst den meisten Deutschen noch wenig geläufig, wurde vor allem unter jüngeren Netzaffinen als Alternative zu Whatsapp gehandelt. In den Monaten der Pandemie gewann Telegram rasant an Bekanntheit – die ist allerdings eher zweifelhaft.

Der Dienst gilt als digitales Sammelbecken für Populisten und Rechtsextremisten, Verschwörungsgläubige und andere Schwurbler. Sie können dort ungestört ihre Ideologien verbreiten, erreichen täglich Hunderttausende. Das von Bund und Ländern eingerichtete Kompetenzzentrum jugendschutz.net sieht Telegram inzwischen als „rechtsextremen Tummelplatz“ und „Verschwörungsschleuder“ beziehungsweise als „zentrale Ausweichplattform für rechtsextreme Propaganda“.

Eine der meistgenutzten Apps weltweit

International hat Telegram einen ganz anderen Ruf. Vor sieben Jahren gegründet, zählt die App inzwischen zu den zehn meistgenutzten der Welt – und auch auch zu den zehn mit den aktuell meisten Downloads. In vielen autoritär geführten Ländern ist Telegram ein wichtiges Instrument der demokratischen Opposition: In Belarus etwa organisieren sich die Gegner von Präsident Lukaschenko über die App.

Denn einerseits bietet Telegram leicht auffindbare, öffentliche Kanäle, in denen Demonstrationsaufrufe oder Bilder von Protesten geteilt werden können. Der bekannteste Kanal mit dem Namen „Nexta“ hat mittlerweile zwei Millionen Abonnenten. Andererseits können Direktnachrichten zwischen zwei Personen mit starker Verschlüsselung verschickt werden. Auch bei den Protesten in Hongkong und im Iran wurde Telegram massiv von der demokratischen Opposition genutzt.

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Genau dies ist erklärtes Ziel der Macher von Telegram. Gründer Pawel Durow, 35, sieht sich als Unterstützer von Freiheitsverfechtern weltweit, die sich mit liberalen Werten gegen Obrigkeiten in totalitären Regimen zur Wehr setzen. Durow ist in Sankt Petersburg geboren, gilt als der „russische Mark Zuckerberg“ und hat sich bereits selbst mit einer autoritären Staatsmacht angelegt: Er ist einer der Gründer von vk.vom, dem russischen Facebook-Pendant.

Angeblich die „sicherste Technologie auf dem Markt“

Weil er sich angeblich weigerte, Nutzerdaten an den Staat weiterzuleiten, wurde er aus dem Unternehmen gedrängt, verließ das Land und lebt seit sechs Jahren an wechselnden Orten im Exil. Seinen Nutzern verspricht er Schutz vor staatlicher Überwachung, ja sogar die „sicherste Technologie auf dem Markt“. In einem der wenigen Interviews, die Durow in den vergangenen Jahren gab, wurde er von CNN damit konfrontiert, dass neben Terroristen auch Drogen- und Menschenhändler seine App nutzen könnten.

In seiner Heimat, antwortete Durow, werde genau dieses Argument angeführt, um die Kommunikation ganz normaler Bürger überwachen zu können – und dann „in vielen Fällen dafür benutzt, um Oppositionelle und liberales Denken zu unterdrücken“.

Ausgerechnet der Ruf, Plattform der Freiheitsliebenden zu sein, ist einer der Gründe, warum sich in Deutschland so viele Rechtsextreme und Verschwörungsgläubige auf Telegram versammeln. Sie wähnen sich in einer Reihe mit den Unterdrückten in totalitären Regimen – ja sehen sich selbst als Kämpfer gegen ein mörderisches Regime, die „Merkel-Diktatur“.

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Der zweite und vermutlich wichtigere Grund: Telegram fällt nicht unter das sogenannte Netzwerkdurchsetzungsgesetz, laut dem rechtswidrige Inhalte vom Seitenbetreiber innerhalb von 24 Stunden nach Eingang einer Beschwerde gelöscht oder gesperrt werden müssen.

Das Gesetz gilt nur für soziale Netzwerke, nicht für Messengerdienste. Hetzer, deren rassistische Posts auf Facebook, Youtube und Twitter gelöscht wurden, wechselten zu Telegram und zogen Gleichgesinnte nach sich.

In seiner aktuellen Studie hat das Kompetenzzentrum jugendschutz.net zahllose strafbare Inhalte dokumentiert, darunter Holocaustleugnungen, Gewaltaufrufe und Terrorhandbücher. Eine Möglichkeit, solche Inhalte zu melden, bietet Telegram nicht.

Ein Geheimnis macht das Unternehmen um seinen Standort. Die „New York Times“ behauptete einmal, Telegram sitze in Berlin, dabei bezog sich die Zeitung auf eine falsche Fährte, die der Dienst selbst gelegt hatte. Mittlerweile heißt es, die wichtigsten Köpfe hinter Telegram hätten sich in Dubai niedergelassen, aber auch dies bleibt ein Gerücht. Die Finanzierung ist ebenfalls unklar, die Nutzung kostenlos, Werbung gibt es keine. Ein für 2018 angekündigtes Monetarisierungskonzept blieb aus.

Vorwürfe gab es schon 2015

Zumindest in einem Bereich ist Telegram von seiner offiziellen Unternehmenslinie abgewichen: Es zensiert islamistische Propaganda. Die Attentäter, die 2015 in Paris 130 Menschen ermordeten, hatten sich über Telegram koordiniert. Gründer Durow wehrte sich zunächst gegen Vorwürfe: Die Täter hätten schließlich auch iPhones genutzt.

Doch die Kritik endete nicht. Anhänger des IS verbreiteten über Telegram Exekutionsvideos, auch Anis Amri, der Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz, und der Attentäter von Nizza nutzten Telegram intensiv. Die „Washington Post“ kürte den Dienst schließlich zur „Lieblingsapp von Dschihadisten“. Am Ende brach Telegram mit dem eigenen Credo, geht seitdem massiv gegen Hassvideos des IS und von Al Qaida vor. Hunderte Kanäle wurden gelöscht.

Sehr zweifelhaft bleibt auch das Versprechen des Gründers, Telegram sei die „sicherste Technologie auf dem Markt“. In dieser Woche wurde bekannt, dass das iranische Regime jahrelang die Telegram-Kommunikation von Oppositionellen überwachte. Deutsche Ermittler können seit mindestens fünf Jahren in Chats von Verdächtigen mitlesen, taten dies auch bei Anis Amri. Allerdings ohne einzuschreiten.

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