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„Diese Veröffentlichung gefährdet die Sicherheit schwarzer Menschen.“ Übeor 800 Mitarbeiter der „New York Times“ unterzeichneten einen Protestbrief gegen den Gastbeitrag des Republikaners Tom Cotton und seine militanten Ansichten.

© Ole Spata/pa/dpa

Aufstand bei der „New York Times“: Mitarbeiter der Zeitung laufen Sturm gegen einen Gastbeitrag

Tom Cotton, republikanischer Senator und Trump-Getreuer, fordert in der "NYT": „Schickt die Truppen“. Das provoziert scharfe Kritik - auch aus der eigenen Redaktion.

Die Nerven liegen blank. In eine emotional aufgeladene Stimmung hinein - die Tötung von George Floyd, Proteste gegen Polizeigewalt und Rassismus, das Bibel-Posing von Donald Trump, der Jahrestag des Tiananmen-Massakers - veröffentlichte die „New York Times“ am Mittwoch einen Gastbeitrag mit der Überschrift „Schickt die Truppen“. Der Autor, Tom Cotton, ist ein republikanischer Senator aus Arkansas, Hardliner und Trump-Getreuer, Harvard-Absolvent mit Jura-Diplom, der „Waterboarding“ nicht für Folter hält, und ein möglicher künftiger Präsidentschaftskandidat. Seine Worte haben Gewicht.

„Was mehr als alles andere die Ordnung auf unseren Straßen wiederherstellen wird“, schreibt Cotton, „ist eine überwältigende Machtdemonstration, um Gesetzesbrecher zu vertreiben, festzunehmen und dadurch abzuschrecken.“ Die Sicherheitskräfte in einigen Städten seien verzweifelt und bräuchten Unterstützung. Die Zahl der Plünderer sei dort höher als die der Polizisten. Unter diesen Umständen würde es die Rechtslage dem Präsidenten erlauben, das Militär zu entsenden. Weiter schreibt Cotton, dass eine Mehrheit der Amerikaner eine solche Maßnahme befürworten würde.

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Was folgte, waren Proteste von Lesern und ein Aufstand innerhalb der „New York Times“. Der Beitrag hätte niemals erscheinen dürfen, empörten sich Redakteure, Dutzende von ihnen teilten einen auf Twitter geposteten Satz der Pulitzerpreisträgerin Nikole Hannah-Jones: „Dies veröffentlicht zu haben, gefährdet die Sicherheit schwarzer Menschen, auch schwarzer Mitarbeiter der ,New York Times'." Sie schäme sich für ihre Zeitung, so Wells. Mehr als 800 Mitarbeiter unterzeichneten einen Protestbrief, adressiert an die Nachrichten- und Meinungsredaktion und an den Verleger.

Der Bogen war überspannt worden

Ein solcher Aufstand ist auch deshalb ungewöhnlich, weil ihn die internen Regeln der Zeitung zum Verhalten ihrer Mitarbeiter in den Sozialen Netzwerken eigentlich untersagen. Demnach dürfen sie öffentlich weder Partei ergreifen noch die Arbeit von Kollegen kritisieren.

Doch diesmal war der Bogen offenbar überspannt worden. Am Donnerstag folgte eine Krisensitzung auf die nächste, für den Freitag war eine Versammlung aller Mitarbeiter geplant. James Bennet, der verantwortliche Redakteur für Meinungsartikel, rechtfertigte zunächst die Publikation des Gastbeitrags. „Es würde die Integrität und Unabhängigkeit der ,New York Times’ beeinträchtigen, wenn wir nur Ansichten veröffentlichen würde, mit denen Redakteure wie ich übereinstimmen“, schrieb er. „Es wäre ein Verrat an einem unserer fundamentalen Grundsätze – den Menschen nicht zu sagen, was sie denken sollen, sondern ihnen zu helfen, für sich selbst zu denken.“

Den Vorwurf, mit der Publikation des Gastbeitrages die in ihm verbreiteten Thesen und Forderungen zu legitimieren, wies Bennet zurück. In der Online-Version sei auf Artikel verlinkt worden, die Cotton stark kritisieren und seine Ansichten kontextualisieren. Außerdem sei es ein legitimes Anliegen, die Weltsicht von Menschen, die Einfluss haben, in einer kompakten Version wiederzugeben. „Solche Ideen offen zu diskutieren, statt sie unwidersprochen zu lassen, hilft einer Gesellschaft, die richtigen Antworten zu finden."

Wo verlaufen die Grenzen?

Noch am selben Tag widersprach Bennet die Kolumnistin Michelle Goldberg. Unter der Überschrift „Tom Cotton’s Fascist Op-Ed“ geht sie mit dem Republikaner hart ins Gericht. Er sei ein „Feind der liberalen Demokratie“, seine Forderung, das Militär zu entsenden, „würde fast sicher zu einer Eskalation der Gewalt führen“.

In einem Tweet habe der Irakkriegs-Veteran Cotton gefordert, es dürfe „keine Gnade“ (no quarter) für Aufständische, Anarchisten und Plünderer geben. Der No-Quarter-Befehl umfasse im Kriegsfall aber die vollständige Auslöschung selbst von Gegnern, die sich zu ergeben versuchen. Deshalb werde er als Kriegsverbrechen gewertet.

Wo verlaufen die Grenzen? Die „New York Times“ ist stolz auf ihre Liberalität. Sie druckt Gastbeiträge von Wladimir Putin und Taliban-Vize Sirajuddin Haqqani. Andererseits, meint Goldberg, hätte die Zeitung wohl niemals einen Trump-Vertreter mit der Forderung gedruckt, Einwandererfamilien an der Grenze zu Mexiko auseinanderzureißen oder die Zahl nichtweißer Einwanderer zu reduzieren.

Am späten Donnerstagabend rückte Bennet von seiner Verteidigung ab. Er habe den Beitrag Cottons vor dessen Publikation nicht gelesen, sagte er in einer Ressortleiterrunde. Kurze Zeit später distanzierte sich die Zeitung selbst. Der Beitrag entspreche nicht ihren Standards, dessen Veröffentlichung sei das Resultat eines „übereilten redaktionellen Prozesses“ gewesen. Dem schloss sich der Verleger A. G. Sulzberger an.
Hinweis der Redaktion: In einer früheren Version haben wir "no quarter" fälschlich mit "kein Viertel" übersetzt. Es bedeutet aber "keine Gnade". Außerdem war von der Pulitzerpreisträgerin Ida Bae Wells die Rede. Das ist ihr Name auf Twitter, eigentlich heißt sie Nikole Hannah-Jones. Wir bitten, die Fehler zu entschuldigen.

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