zum Hauptinhalt
Ermordet und verstümmelt: Das Bild eines Plantagenarbeiters in Belgisch-Kongo, der vor der abgeschlagenen Hand und dem Fuß seiner Tochter sitzt, brachte die westliche Öffentlichkeit gegen den belgischen König Leopold II. auf.

© Alice Seeley Harris/ANTI SLAVERY

Arte-Dreiteiler „Entkolonisieren“: Der Blick von oben herab

Ein Arte-Dreiteiler erzählt die Geschichte der Befreiung von den Kolonialherren. Der Völkermord an den Herero wird dabei auch behandelt.

Ein Mann auf einer Veranda, sein Bein ist angewinkelt. Stumm, scheinbar emotionslos, blickt er auf zwei abgetrennte Körperteile, die vor ihm liegen: ein kleiner Fuß, eine kleine Hand. Das Foto entstand am 14. Mai 1904 im damaligen Belgisch-Kongo. Die Tochter eines der Arbeiter auf den Kautschuk-Plantagen war ermordet und verstümmelt worden. Ihr Vater brachte den Fuß und die Hand zu Alice Harris, einer evangelischen Missionarin, die begonnen hatte, die Misshandlungen und Morde im privaten Kolonialreich des belgischen Königs Leopold II. zu dokumentieren. „Es ist das erste Foto, das etwas bewegt“, heißt es im Dreiteiler „Entkolonisieren“. Die Presse in Großbritannien und den USA berichtete, Teile der westlichen Öffentlichkeit waren ob der Grausamkeiten und Gier des Königs empört. Schließlich zwang das Parlament in Brüssel Leopold II. 1908 dazu, den Kongo zu überschreiben – nicht etwa an seine Bewohner, sondern an den belgischen Staat.

[„Unter Herrenmenschen“, Arte, Dienstag, 20 Uhr 15; „Entkolonisieren“, drei Folgen, 21 Uhr 10]

Von Algerien bis Vietnam

Die von Arte France in Auftrag gegebene Dokumentar-Reihe erzählt die Geschichte der Befreiung von den Kolonialherren in Indien und Vietnam, im Kongo und in Kenia, in Marokko und Algerien, also in einigen Kolonien Frankreichs, des britischen Weltreichs und Belgiens. Auch der Völkermord an den Herero in Deutsch-Südwestafrika findet im ersten Teil Erwähnung. Arte zeigt außerdem vor dem Dreiteiler Christel Fromms ZDF-Dokumentation „Unter Herrenmenschen“, die sich nur mit der deutschen Kolonialgeschichte auf dem Gebiet des heutigen Namibia beschäftigt. Verständlicherweise setzt das Autorentrio Karim Miské, Pierre Singaravélou und Marc Ball in „Entkolonisieren“ Schwerpunkte, aber dass der Kampf gegen das Apartheidsregime der Buren in Südafrika gar keine Erwähnung findet, ist etwas befremdlich.

Statt mal wieder Nelson Mandelas Geschichte zu schildern, werden allerdings einige – sieht man von Ho Chi Minh ab – weniger bekannte Anführer des Befreiungskampfes gewürdigt. Vor allem auch: Anführerinnen. Beginnend bei Mannikarnika, der Herrscherin von Jhansi in Nordindien, die 1857/58 den Aufstand gegen die Britische Ostindiengesellschaft wagte, im Kampf fiel und „die größte Heldin des modernen Indien“ ist, wie es im Film heißt und worauf Ausschnitte aus einem pathetischen Bollywood-Schinken auch hindeuten. Und in den weiteren Abschnitten zur indischen Kolonialgeschichte stehen nicht etwa Mahatma Ghandi oder Jawaharlal Nehru, der erste Ministerpräsident des unabhängigen Indien, sondern Ghandis enge Vertraute im gewaltlosen Widerstand, Sarojini Naidu, und Nehrus prominente Tochter Indira Ghandi, Indiens zweite Ministerpräsidentin, im Vordergrund. In Kenia ist es 1922 ebenfalls eine Frau, Mary Nyanjiru, die an der Spitze eines Aufstands steht. Und für den blutig niedergeschlagenen Unabhängigkeitskampf der Kikuyu in Kenia in den 1950er Jahren steht die 16-jährige Wambui Waiyaki.

Überflüssige Warnungen

Neben einigen Fehlern im Detail in der deutschen Fassung überrascht die überflüssige Warnung vor jeder Folge: „Dieses Programm ist nicht geeignet für Kinder, Jugendliche oder empfindsame Zuschauer.“ Nun gibt es notwendigerweise Fotos und Filmaufnahmen, die Unterdrückung, Misshandlungen und Mord dokumentieren – für Kinder können solche Szenen sicher belastend sein, aber an die richtet sich der Dreiteiler mit seiner sprunghaften Dramaturgie und seinen wortreichen Kommentaren aus dem Off ohnehin nicht. Die Reihe überschreitet auch kein unzumutbares Maß an Gewaltdarstellung und ist absolut geeignet, sich einen Überblick über die Kolonialgeschichte in verschiedenen Regionen zu verschaffen, auch für interessierte Jugendliche.

Zumal es offenkundig ist, dass diese Vergangenheit – der Rassismus, der koloniale Blick von oben herab, der „verächtliche oder bedauernde Blick“ auf Afrika, wie die Autoren formulieren – noch tief in die Gegenwart wirkt. Dass die Kolonialgeschichte nicht mit der gewonnenen Unabhängigkeit endet, führt der dritte Teil am Beispiel der Demokratischen Republik Kongo vor Augen. Mehr als drei Jahrzehnte wurde sie von Diktator Mobutu regiert, einem Mann, der seinen demokratisch gewählten Vorgänger, den Sozialisten Patrice Lumumba, aus dem Weg räumen ließ und sich fortan mit Rückendeckung des Westens an der Macht hielt.

Der Tag der Befreiung werde der schönste Tag unseres Lebens sein, schrieb der algerische Dichter Kateb Yacine. „Es gibt nur eine Sache, die wir lieber vergessen: Von nun an sind wir es selbst, die uns Leid zufügen.“

Zur Startseite