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Wie soll die industrielle Ermordung von Juden in Auschwitz gestoppt werden? Vor dieser Frage standen die Alliierten 1944, nachdem sie durch zwei geflüchtete Lagerinsassen über die Vorgänge im Konzentrationslager erfuhren.

© Axel Schmidt/Reuters

Arte-Dokumentation: Bomben auf Auschwitz?

Wie sollte der Massenmord an Juden in Auschwitz gestoppt werden? Eine Arte-Dokumentation über verzweifelte Überlegungen der Alliierten.

Wie durch ein Wunder entkamen im April 1944 zwei Häftlinge dem Konzentrationslager Auschwitz. Ihr detaillierter Bericht gab erstmals Einblicke in die menschenverachtende Systematik des Völkermords und löste unter den Alliierten eine erbitterte Debatte aus: Soll man die industriell betriebene Tötung von Juden durch eine gezielte Bombardierung der Nazi-Krematorien stoppen? Eine Arte-Dokumentation 75 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers geht der Frage nach, ob es 1944 ein Richtiges im Falschen gab.

In seinem Film konzentriert sich der Brite Mark Hayhurst, Spezialist für historische Themen, zunächst auf das Schicksal der beiden KZ-Häftlinge Rudolf Vrba (1924–2006) und Alfred Wetzler (1918–1988). Als sogenannte „Funktionshäftlinge“ konnten die beiden Freunde sich in Auschwitz relativ frei bewegen. Dabei lernten sie die Einzelheiten der Mordmaschinerie detailliert kennen.

Die "Auschwitz-Protokolle" veränderten alles

Nachgespielte Szenen führen vor Augen, wie die beiden nach ihrer Flucht in der Slowakei untertauchten. Ihre Erlebnisse gaben sie dem jüdischen Untergrund in Žilina zu Protokoll. Eine Kurzform ihrer Schilderungen geriet auf verschlungenen Wegen bis zu dem von US-Präsident Roosevelt gegründeten War Refugee Board. Der Bericht von Vrba und Wetzler veränderte alles.

[ „1944: Bomben auf Auschwitz?“, Arte, Dienstag, 20 Uhr 15]

So zeichnet der Film zunächst die Auseinandersetzung über das Für und Wider einer gezielten militärischen Intervention nach: Wie sollte man einen Luftangriff gegen ein Vernichtungslager in Polen just zu dem Zeitpunkt führen, da alle verfügbaren Kräfte für die Landung der Alliierten in der Normandie mobilisiert werden mussten?

Eine solche Operation hätte die Streitkräfte zudem vor militärische Probleme gestellt. Um ein Krematorium „von der Größe eines Tennisplatzes“ zu treffen, hätten, so eine Militärexpertin, etwa 220 Langstreckenbomber je zehn Bomben abwerfen müssen. Zweifellos hätten die Alliierten damit auch ein Massaker unter befreundeten Zivilisten angerichtet. Die Vernichtungsmaschinerie wäre damit früher gestoppt worden. Doch die Nazis, so die Befürchtung, hätten einen solchen Kollateralschaden als perfektes Alibi nutzen können. Sie hätte die Ermordung der Juden den Alliierten in die Schuhe schieben können.

Die Dokumentation wirft eine weitere beklemmende Frage auf: Wie fühlt es sich aus der Sicht eines deportierten Häftlings an, wenn die auf Hochtouren laufende Vernichtungsmaschinerie täglich 5000 Menschen in die Gaskammern schickt, und obendrein noch Bomben aufs Lager fallen? Von diesem unfassbaren Erlebnis berichten Auschwitz-Überlebende, die vor der Kamera zu Wort kommen: Tatsächlich starben am 13. September 1944 40 Gefangene, als Bomben auf das Lager in Birkenau fielen – allerdings unbeabsichtigt. Eigentliches Angriffsziel war das etwa sechs Kilometer entfernte IG-Farben-Werk, in dem Treibstoff für das deutsche Militär produziert wurde.

Erschütternd ist besonders jenes weniger bekannte Kapitel, in dem der Film noch andere Widerstände gegen eine militärische Befreiung des Konzentrationslagers rekapituliert. „Juden“, so fasst ein Beamter des britischen Außenministeriums die Bedenken vieler Kollegen zusammen, „sind im Allgemeinen geneigt, ihre Verfolgung zu übertreiben“. Ein anderer beschwert sich, dass „unverhältnismäßig viel Zeit mit diesen weinerlichen Juden vergeudet wird“.

Antisemitismus in der US-Gesellschaft

Dieser Antisemitismus ist auch in der amerikanischen Gesellschaft verwurzelt. Nachdem John Pehle, Direktor des War Refugee Board, die Auschwitz-Protokolle an die Presse gegeben hatte – worauf der Begriff „Völkermord“ erstmals in den Schlagzeilen auftauchte –, druckte das „Yank“-Magazin, eine Zeitschrift für amerikanische Soldaten, die Geschichte über die Gräueltaten im Konzentrationslager nicht ab. Begründung: Sie sei „zu judenfreundlich“.

Es gibt viele Filme über Auschwitz. Diese Dokumentation jedoch, die Arte anlässlich des Internationalen Tages des Gedenkens an die Opfer des Holocausts ausstrahlt, setzt neue Akzente. Sie zeichnet minutiös nach, wie sich bei Entscheidungsträgern aus Politik, Militär und Widerstandsorganisationen allmählich die Erkenntnis durchsetzte, dass die Schoah ein singuläres Ereignis ist.

Manfred Riepe

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