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„Wer Kanzler werden will, muss Wahlkampf können“, sagt Olaf Scholz (Mitte). Doch das gilt genauso für Armin Laschet und Annalena Baerbock.

© SWR/MSC/Kuhlmann

ARD-Reportage „Wege zur Macht“: „Wahlkampf der vertanen Chancen“

Dokumentarfilmer Stephan Lamby hat Annalena Baerbock, Armin Laschet und Olaf Scholz über Monate begleitet. Seine Beobachtungen fallen ernüchternd aus.

„Wer Kanzler werden will, muss Wahlkampf können. Ich bin mir sicher, dass ich die Nerven dafür habe“, sagt Olaf Scholz, der Kanzlerkandidat der SPD zu einem Zeitpunkt, als die Sozialdemokraten von den Demoskopen gerade einmal mit 14 bis 16 Prozent gehandelt werden. „Ich war noch nie Kanzlerin oder Ministerin. Aber ich stehe für Erneuerung, für den Status quo stehen andere“, sagt Annalena Baerbock, die Spitzenkandidatin der Bündnis-Grünen. Und Armin Laschet, der sich erst nach zähem Ringen in der Union als möglicher Nachfolger von Angela Merkel gegen Markus Söder durchsetzen konnte, sagt: „Ich habe viel gelernt, auch darüber, wer verlässlich ist – und wer nicht.“ Die drei Zitate stammen aus der Langzeitreportage „Wege zur Macht. Deutschlands Entscheidungsjahr“, die am Montag, sieben Tage vor der Wahlentscheidung, zur Prime Time in der ARD ausgestrahlt wird.

Ein dreiviertel Jahr hat der vielfach ausgezeichnete Dokumentarfilmer Stephan Lamby verfolgt, wie sich die drei Parteien, deren Kandidaten sich Chancen auf die Nachfolge von Angela Merkel als Bundeskanzler beziehungsweise Kanzlerin machen können, für den Wahlkampf positioniert haben. Einen Wahlkampf wie diesen für Deutschland als selten zu bezeichnen, ist dabei eine Untertreibung. Einerseits, weil die Amtsinhaberin nicht abgewählt wird, sondern nach 16 Jahren selbst den Weg frei macht. Andererseits, weil sich gleich drei Politiker Hoffnungen machen können oder es zumindest zeitweise konnten.

[„Wege zur Macht. Deutschlands Entscheidungsjahr“, Montag um 20 Uhr 15 in der ARD]

Viel Überredungskünste musste Lamby nicht aufbringen, um die Kandidaten ins Boot zu holen. „Das ist nicht die Kunst, wenn man einen Film macht, der kurz vor der Wahl im Ersten Programm der ARD um 20 Uhr 15 laufen soll“, sagt Lamby dem Tagesspiegel. „Dem kann sich kaum ein Politiker oder eine Politikerin entziehen.“ Das Problem bestand eher darin, möglichst häufig und über einen so langen Zeitraum einen exklusiven Zugang zu den Politikern zu bekommen. Das ist dem Dokumentarfilmer gelungen. So zum Beispiel bei der Union: „In den entscheidenden zehn Tagen im Kampf Laschet gegen Söder war ich im Konrad-Adenauer-Haus dicht dabei. Das hinzubekommen, war nicht einfach.“ Aber auch an Olaf Scholz kam Lamby dicht heran, unter anderem im Flugzeug auf dem Weg nach London bei den entscheidenden G7-Verhandlungen über die Mindestbesteuerung der großen Tech-Konzerne.

„Ich hatte offenbar den richtigen Riecher“

Olaf Scholz war der Erste, den seine Partei auf den Schild gehoben hat. Die erste Anfrage stellte Lamby darum im August 2020 an das SPD-Team. Die Entscheidung der ARD für eine Langzeitreportage über die Spitzenkandidaten im Bundestagswahlkampf war da längst gefallen. Zu Armin Laschet knüpfte Lamby den ersten Kontakt für diesen Film im November, obwohl in der Union die Kandidatenfrage da noch komplett offen war. „Ich hatte offenbar den richtigen Riecher“, sagt Lamby jetzt. Aber auch Friedrich Merz, Norbert Röttgen und Markus Söder wurden angefragt. „Ich bin allerdings die ganze Zeit davon ausgegangen, dass Armin Laschet es wird, darum habe ich mich um ihn besonders bemüht.“ Das erste Gespräch mit den Grünen fand im Oktober statt, zu der Zeit war nur klar, dass es entweder Robert Habeck oder Annalena Baerbock werden würde.

Bei aller Offenheit der Kandidaten für die vielen Fragen von Stephan Lamby gab es allerdings auch Grenzen. „Ich konnte bei allen Parteien auch bei internen Runden drehen, gelegentlich auch bei Videoschalten von Präsidium oder Vorstand.“ Hallo Malu, hallo Norbert, hallo Saskia, ist an einer Stelle zu hören, als Olaf Scholz in seinem Büro eine Videokonferenz eröffnet. Wenn in den Parteien allerdings über geheime Strategien gesprochen wurde, musste das Drehteam vor die Tür. Ab wo es hieß „bis hierhin und nicht weiter“, da unterschieden sich die Parteien. „Die Union und die SPD haben da mehr zugelassen. Die Grünen waren, was das betrifft, vorsichtiger.“ Lamby führt das darauf zurück, dass es für die Grünen der erste Kanzlerinnen-Wahlkampf ist und sie daher unsicherer agieren. Egal wie, Material entstand in Hülle und Fülle. Auf über 35 Drehtage kam Lamby am Ende. „Ich mache seit 23 Jahren solche Filme und habe den letzten Wahlkampf gegen Helmut Kohl ebenso begleitet wie den Wahlkampf Merkel gegen Steinbrück und Merkel gegen Schulz. Aber ich kann mich nicht erinnern, mal so lange und so viel für einen Film gedreht zu haben.“

„Wer Kanzler werden will, muss Wahlkampf können“, sagt Olaf Scholz (Mitte). Doch das gilt genauso für Armin Laschet und Annalena Baerbock.
„Wer Kanzler werden will, muss Wahlkampf können“, sagt Olaf Scholz (Mitte). Doch das gilt genauso für Armin Laschet und Annalena Baerbock.

© SWR/MSC/Kuhlmann

Das wirkt sich auch auf Auswahl und Schnitt aus. Nicht alles konnte berücksichtigt werden. Rausmehmen musste Lamby den Nahostkonflikt vom Mai, der auch die drei Kanzlerkandidaten gefordert hat. „Ich habe Annalena Baerbock in eine Berliner Synagoge begleitet, ich war mit Olaf Scholz in Halle bei einer Synagoge. Diesen außenpolitischen Aspekt wollten wir noch thematisieren, aber das passte in 75 Minuten nicht rein.“

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Der Film entstand in drei Phasen. Bereits im April wurde zwei Wochen geschnitten, um ein Gefühl für Material und Gewichtung zu bekommen. Im Juni folgten zwei weitere Wochen am Schnittplatz und ab Anfang August wurde täglich geschnitten. Parallel zu drehen und zu schneiden, sei nötig gewesen, weil sich immer wieder neue Fragen ergaben. Zu beobachten ist dies besonders deutlich in der Zeit der Entscheidung zwischen Laschet und Söder, die im Film einen großen Raum einnimmt.

„Wahlkampf ist auch immer und notwenderweise Schauspiel“

Doch wie authentisch waren die Kandidaten unter Dauerbeobachtung? „Jeder Wahlkampf ist auch immer und notwenderweise Schauspiel. Meine Aufgabe ist es, ganz viel Material zu sammeln, die Phrasen auszusortieren und die authentischen Situationen und Gedanken zu identifizieren. Ich glaube, dass ist bei allen Dreien gelungen“, meint Lamby.

Sein perönliches Fazit nach fast einem Jahr fällt ernüchternd aus. „Für mich ist es ein Wahlkampf der vergebenen Chancen. Am Anfang des Jahres war in den Reden der meisten Politiker und Politikerinnen über den Klimawandel, Corona, die Digitalisierung und den Reformstau in Deutschland zu hören. Doch dann ging es wochenlang um zu spät gemeldete Bonuszahlungen, Plagiate und unangemessenes Lachen. Über weite Strecken führte der Wahlkampf in völlig falsche Richtungen.“

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