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Kann Gabrielle (links, Victoire Laly) ihrem Kollegen Daniel (rechts, Anton Weil) noch vertrauen?

© WDR

ARD-Mittwochsfilm: Tödliches Online-Spiel

Der ARD-Thriller „Flügel aus Beton“ handelt von der gefährlichen Manipulation depressiver Jugendlicher. Und geht etwas leichtfertig mit einer Falschnachricht um.

Mia (Rosa Zach) stürzt sich vom Geländer einer verlassenen Industrieanlage – und filmt dabei mit dem Smartphone den eigenen Tod. „Für einen Moment wirst du fliegen“, hatte ihr „König Minos“ versprochen. Der Unbekannte betreibt ein Online-Spiel, das er bezeichnenderweise #Ikarus genannt hat. In dem Fernsehfilm „Flügel aus Beton“ folgen depressive Jugendliche den Anweisungen dieses anonymen Spielleiters, der ihnen nach 16 zunehmend schmerzhaften Runden die letzte Aufgabe stellt: den Suizid.

Auch Laura (Rika Schlegel), die von Klassen-Biest Stefanie (Andrea Guo) und ihren Freundinnen gemobbt wird, spielt das Ikarus-Spiel. Die Nachricht von Mias Tod schockt sie keineswegs, sondern scheint sie geradezu anzustacheln. Ein heftiges, aber – zum Glück – nicht sehr realistisches Szenario über die Manipulation Jugendlicher durch Online-Medien. Im Zusammenhang mit dem Thema Suizid gerät man schnell in den Verdacht gefährlicher Effekthascherei. Damit würde man diesem ARD-Mittwochsfilm allerdings Unrecht tun.

Hauptfigur ist Referendarin Gabrielle Amadou (Victoire Laly), weshalb „Flügel aus Beton“ auch kein reines Jugenddrama ist. Vielmehr nutzt Drehbuch-Autorin Lilly Bogenberger Thriller-Elemente, während sich Regisseurin Lea Becker in ihrer Inszenierung bemüht, dem heiklen Thema gerecht zu werden, ohne Nachahmungsreize zu setzen. Mia springt nicht von einer leicht zu identifizierenden Brücke, sondern vom Gerüst eines Industriewerks im Nirgendwo. ("Flügel aus Beton“, ARD, Mittwoch, 20 Uhr 15)

Die Kameraführung von Doro Götz, die für die Arbeit an diesem Film übrigens für den Deutschen Kamerapreis nominiert wurde, ist zurückhaltend. Auch wird das Leid, das Mias Tod etwa beim alleinerziehenden Vater (Rainer Sellien) verursacht, weder ausgeblendet noch langatmig ausgewalzt.

In den Mittelpunkt rücken stattdessen Aufklärung und die Verhinderung weiterer Suizide. „Flügel aus Beton“ verfolgt also einen konstruktiven Ansatz, das Ensemble umfasst schwache und starke, sympathische und unsympathische Nebenfiguren und macht somit ein differenziertes Identifikations-Angebot für Jugendliche. Das pure Böse findet sich hier nicht. Eine Schrifttafel warnt dennoch, der Film könne „unangenehme Gefühle und negative Reaktionen hervorrufen“.

Positiv hervorzuheben ist die diverse Besetzung

Gabrielle, die nach dem Tod der Mutter deren Platz für ihre pubertierende Halbschwester Ava (Seyna Sylla) eingenommen hat, hakt bei Mias Mitschülerinnen und Mitschülern nach, sucht nach Mias Datenspuren im Netz und kommt so der Existenz des Spiels bald auf die Schliche. Ava, die Kickbox-Freundin von Stefanie, weiß ebenfalls davon, scheint aber nicht gefährdet. Im Gegenteil: Sie zeigt Interesse an Laura und freundet sich mit ihr an – was die Hoffnung nährt, dass das schüchterne Mädchen rechtzeitig vom fatalen Weg abgebracht werden kann.

Da die Polizei nichts unternehmen will, meldet sich Gabrielle unter Avas Namen selbst bei #Ikarus an und beginnt, das Spiel zu spielen. Aber trotz ihrer nach außen demonstrierten Stärke bleibt eine Ungewissheit: Denn eine Narbe an der Hand zeugt davon, dass die Referendarin selbst schon einmal einen Suizidversuch begangen hatte. Außerdem bestellt sie bei dem „psychisch angeschlagenen“ Physiklehrer Daniel Städke (Anton Weil) Tabletten, die ihr durch den Alltag helfen sollen.

Positiv hervorzuheben ist die diverse Besetzung, ohne dass mit einem einzigen Wort unterschiedliche Hautfarben oder Herkunftsgeschichten thematisiert würden. Die deutsche Gesellschaft ist hier auf eine selbstverständliche Weise bunt. Die darstellerischen Leistungen in dem zum Teil mit Laien besetzten Ensemble wirken manchmal etwas ungelenk, und die finale Auflösung des „König Minos“-Rätsels kann auch nicht recht überzeugen.

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Aber „Flügel aus Beton“ ist keiner dieser Themenfilme, der von oben herab auf die Jugendlichen und ihre Nöte herabblickt. Und einen ARD-Mittwochsfilm, der auf den kreativen Schlüsselpositionen nahezu ausschließlich mit jungen Frauen besetzt ist, gibt es auch nicht alle Tage.

Fragwürdig ist der Film aber doch in einem nicht unbedeutenden Detail: Lilly Bogenberger bezieht sich nach eigenen Angaben auf die „Blue Whale Challenge“, die angeblich ebenfalls mit dem Suizid des Teilnehmers endete. Allerdings gab es dieses Online-Spiel niemals wirklich.

Die Verbreitung der Falschnachricht seiner angeblichen Existenz wurde vor fünf Jahren jedoch zum Internet-Phänomen, das Nachahmer zu ähnlichen Versuchen animierte – und nun auch noch ins Fernsehen verlängert wird. Dieser medienkritische Aspekt wird etwas leichtfertig ausgeblendet.

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