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Wir gefährlich ist das Coronavirus? Anne Will und ihre Gäste diskutieren.

© von https://daserste.ndr.de/annewill/index.html

„Anne Will“ zum Coronavirus: Jeder für sich isoliert im eigenen Erfahrungsraum

Wie berechtigt die Angst vor dem Coronavirus sei, wollte Anne Will von ihren Gästen wissen. Viel Erregung kam nicht auf, vieles war schon gesagt worden.

Am Abend des Tages, an dem aus Italien die Meldung kam, innerhalb von 24 Stunden seien 133 Menschen gestorben und Gesundheitsminister Jens Spahn empfahl, Veranstaltungen mit mehr als 1000 Teilnehmern abzusagen, wollte Anne Will von ihren Gästen wissen, wie berechtigt die Angst vor dem Virus ist.

Die Sendung begann mit der leicht ruckeligen Live-Schaltung zu einem Opernsänger, der sich in häuslicher Quarantäne befindet, da er in Italien Kontakt zu einem Infizierten hatte. Ob der Mann selbst erkrankt ist, blieb ungeklärt, wie so vieles an diesem Abend, aber es war zumindest ein atmosphärisch starker, wenngleich retardierender Auftakt.

Das Thema eignete sich nicht zum üblichen Politik-Streit, zum gewohnten Clash der Argumente, vielmehr saß jeder in seinem eigenen Sprach- und Denkgehäuse, in gewisser Weise isoliert im eigenen Erfahrungsraum. Das Studiopublikum klatschte auch seltener als sonst, weil es kaum Sprüche für das digitale Poesiealbum gab und niemand sich zum rhetorischen Triumphator aufschwang.

Kein Gast neigte zur Dramatisierung

NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) gab zu: „Die Frage der häuslichen Quarantäne hab ich in meinem politischen Leben noch nicht erlebt.“ Und auch Susanne Herold, als Professorin für Infektionserkrankungen der Lunge, die eigentliche Expertin in der Runde, sagte mehr als einmal: „Das wissen wir nicht genau.“

Im Gegensatz zu den zwar abwesenden, dennoch sehr anwesenden „Star-Virologen“ Alexander Kekulé und Christian Drosten, die derzeit fast überall in den Medien anzutreffen sind, wo es um das Coronavirus geht, war ihr gesamter Performance-Gestus nicht auf Dramatisierung angelegt.

Weil das Coronavirus nicht nur Menschen, sondern auch die Wirtschaft angreift, war der Ökonom Marcel Fratzscher eingeladen, dessen Zweitwohnsitz sich in den Talkshows der Republik befindet. Der freundliche Mann ist die samtpfötige Kassandra vom Dienst. Zwar sorgte er sich um Konsum und Konjunktur und empfahl eine kurzfristige Senkung der Mehrwertsteuer und ein mittelfristig wirksames Investitionsprogramm, sonst stünde es schlecht um den Patienten Deutschland, aber Lebensgefahr bestehe offenbar nicht, auch wenn die Arbeitslosigkeit steigen werde.

Der Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar wirkte hingegen widersprüchlich. In Sorgenfalten der ganze Körper gelegt, forderte er rasches und energisches Handeln – und zugleich warnte er vor Hysterie und Alarmismus. Seine Argumentationskette war insgesamt unscharf. Zwar bekam er viel Applaus für den Satz „Wir dürfen die Medien nicht als Erregungsbewirtschaftung sehen“, aber diese Medienkritik war derart generalisierend und unpräzise, dass sie zu jedem anderen Erregungsdiskurs gepasst hätte.

Erregungsjournalismus war dieser Sendung nicht vorzuwerfen, auch bildlich nicht. Das Coronavirus, das zeitweilig an die rückwärtige Studiowand projiziert wurde, wirkte ganz possierlich und von dramatischen Einspielfilmen und dräuender Untergangsmusik wurde auch abgesehen.

Die Fachsprachen fanden nicht zueinander

Der interessanteste Gast war die Fachärztin für Allgemeinmedizin und Geriatrie Sibylle Katzenstein, die der Wissenschaft, der Wirtschaft und der Politik nicht das Feld überließ, sondern sich selbstbewusst als skeptische Pragmatikerin zeigte. Sie warnte vor einer Überlastung des Gesundheitssystems und diagnostizierte, dass bereits Belastungsgrenzen überschritten seien.

Dennoch war sie keine Erregungssirene. Da sie in ihrer Neuköllner Praxis keine schützenden Atemmasken und Schutzkleidung habe, lässt sie ihre Patienten zuhause selbst einen Corona-Abstrich vornehmen, den sie dann gefahrlos testen könne. Mit Blick auf China und die dortige rigide Gesundheits- und Isolationspolitik wünschte sie sich hierzulande einen weniger individualistischen Lebensstil und selbstloseren Umgang mit der Krankheit. Die Allgemeinheit müsse mehr an Ältere und schwächere Menschen denken und weniger individuelles Vergnügen wie Bundesligaspiele im Blick haben. Applaus!

Nach Jens Spahns Empfehlung, Großveranstaltungen abzusagen und Laumanns verklausulierten Einlassungen dazu, kann man davon ausgehen, dass schon nächste Woche zumindest einige Bundesligaspiele unter Ausschluss der Stadionöffentlichkeit stattfinden werden.

Zwar kam nicht wirklich eine diskursive Konnektivtät zustande, die Fachsprachen stießen nicht befruchtend aneinander, dennoch zeigte sich die Gastgeberin in ihrer Paraderolle als wissbegierige Übersetzerin, die dem Zuschauer hilft, Begriffshürden zu meistern und Experten-Perspektiven auszuleuchten. Was auch immer die Republik quält, die Moderatorin schafft es, hier oder dort, durch eine Geste, eine listige Frage oder ein entwaffnendes Mienenspiel, den kriegerischen Ernst zu vertreiben, wo Menschen zusammen kommen, um redend zu streiten.

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