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Journalistinnen aus eingewanderten Familien wie hier Pinar Atalay und Linda Zervakis gibt es inzwischen öfter. Unter den Be- und Gefragten sind sie weiter selten.

© TVNow

Analyse der Neuen deutschen Medienmacher: Abendnachrichten zeigen zu wenig Vielfalt

Zu wenig Frauen und Migranten, praktisch keine Behinderten: Gerade die Abendnachrichten sollten vielfältiger sein, meinen die Neuen deutschen Medienmacher.

Die Neuen deutschen Medienmacher:innen kritisieren die geringe Vielfalt in der TV-Hauptnachrichten. In den Primetime-Programmen von ARD, ZDF und RTL, deren Daten sie für die Zeit der heißen Phase des Bundestagswahlkampfs ausgewertet haben, seien Menschen mit Migrationshintergrund viel seltener zu sehen gewesen, als es ihrem Anteil entspricht – nämlich nur zu zehn Prozent, in der Bevölkerung sind es knapp 27 –, Frauen selten als Expertinnen und Behinderte praktisch nie (0,7 Prozent).

Die NdM, ein Zusammenschluss von Journalistinnen und Journalisten mit und ohne Migrationshintergrund, die sich für Medienvielfalt einsetzen, wollten nach den Worten ihrer Vorsitzenden Ferda Ataman vor einer wichtigen Wahl wissen, „wer zu Wort kommt, wenn es um die Zukunft des Landes geht“. Nachrichten habe man gewählt, weil sie selbst ein Stück Wirklichkeit schaffen, „Relevanz, Sichtbarkeit, Normalität“.

Ihre Themen - aber zu Bildung und Arbeit kommen Migranten nicht zu Wort

Demnach wären Frauen mit Sachverstand, ganz unabhängig vom Hintergrund, nicht normal: Ohnehin kommen auf jede Frau im Bild zwei Männer (35 zu 75, nicht binäre Menschen waren demnach nicht im Bild). Als Expertinnen sind sogar nur 21 Prozent gefragt. Migrantische Fachleute, gleich welchen Geschlechts, machen lediglich neun Prozent der Befragten aus.

Analysiert wurden Bild und Ton von knapp 4200 Auftritten von mehr als 2500 verschiedenen Personen in 183 Nachrichtensendungen im gesamten August und September 2021.

Dabei ging es nicht um Journalist:innen, sondern um die, die Gegenstand ihrer Berichterstattung sind, entweder als Hauptpersonen oder solche, die kommentieren oder mindestens in einer Sendung zu sehen sind.

Mit Hilfe der Datenjournalistin Kira Schacht untersuchten die NdM auch die Themen, um die es ging: Am häufigsten durften Menschen mit Migrationshintergrund dann sprechen, wenn es um Migration und Flucht ging. Das hält der Verein zwar schon für einen Fortschritt gegenüber Zeiten, da auch dann nur über Migranten gesprochen wurde.

Zu allgemein politischen Themen - Sicherheit, Steuern, Corona - kämen Personen aus Einwandererfamilien höchstens am Rande vor. Vor allem, wenn es um Innenpolitik ging (7) oder als Fachleute (9) tauchten sie kaum auf.

Womöglich noch kurioser: Im fraglichen Zeitraum waren Menschen mit Migrationshintergrund weder im Zusammenhang mit Arbeitsmarkt noch mit Bildung je als Fachleute, als Wissenschaftlerinnen oder Praktiker, im Bild. Gerade Arbeit und Bildung werden schließlich sehr oft im Bezug auf Eingewanderte behandelt, ihre - mangelnden - Chancen und ihren Erfolg.

Verkehrswende, mit den Augen einer Behinderten gesehen

Die NdM empfehlen die britische BBC als Vorbild. Die bemühe sich, um ihrem Auftrag als gebührenfinanzierter Sender nachzukommen, aber auch aus journalistischen Gründen, aktiv darum, die reale Vielfalt des Landes abzubilden. Die BBC schule sogar Fachleute mit Behinderung oder aus anderen Minderheiten, um ihnen den Auftritt vor der Kamera zu erleichtern.

Es gehe nicht darum, Menschen als „andere“ zu markieren, sondern sich als Journalist:in zu prüfen, ob man genügend Perspektiven außer der eigenen integriere. Das Motto Fifty-fifty, das die BBC für das Geschlechterverhältnis ausgegeben habe, empfehlen die NdM als "dreißig, siebzig". Es könne Anlass sein, die eigenen „Adressbücher, Themen und Thesen durchzusehen“, sagte Chiponda Chimbelu, der bei der Deutschen Welle arbeitet. Das sei auch in Deutschland nicht so schwierig.

Und es weite den Blick: Wer nämlich die Klimakrise und Verkehrswende etwa aus dem Blickwinkel einer Behinderten betrachte, merke, dass es hier nicht nur um mehr Radwege gehe.

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Immerhin zehn Prozent der Bevölkerung in Deutschland hat eine schwere Behinderung. Was der Durchschnittswert verbirgt: Unter den über 65-Jährigen ist es schon ein Viertel - und sie sind die Altersgruppe, die am meisten fernsieht.

Dass man einfach keine Gesichter finde, die die Vielfalt der Gesellschaft zeigten, lässt Ferda Ataman nicht gelten: "Das hat man früher auch bei Frauen gesagt", sagte sie dem Tagesspiegel. Und verweist auf den Bundestag: Dort sind zwar Menschen mit Einwanderungsgeschichte ebenfalls unterrepräsentiert, sie machen nur elf Prozent der Abgeordneten aus. Das seien aber immer noch "fast viermal so viele wie in den Nachrichten". In den untersuchten Abendsendungen nämlich stellen sie nur vier Prozent der Gesichter, die man sieht und hört.

Für die CSU sprechen nur weiße Deutsche

Dabei ist "die CSU nur mit weißen Deutschen vertreten." Die vergleichsweise gute TV-Migrantenquote der Grünen - 13 Prozent - verdanke sich freilich fast ausschließlich deren Außenpolitiker Omid Nouripour, der in den beiden untersuchten Monaten wegen der vielberichteten Machtübernahme der Taliban in Afghanistan oft Gelegenheit zum Auftritt bekam.

So wie die wenigen Behinderten, die im August und September auf der Mattscheibe auftauchten, es wegen der Paralympics taten. "Inakzeptabel", sagte dazu Judyta Smykowski vom Projekt Leidmedien, das Medien dabei berät, Behinderte stärker mitzudenken, einzustellen und über sie zu berichten.

"Redaktionen müssen verinnerlichen, dass behinderte Menschen Bürger:innen dieses Landes sind und dass man sie auch bei allen Themen befragen sollte."

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