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Fame? Sheila Rubin (Rose Byrne) hat die Burgerbuden hinter sich gelassen. Jetzt wird im Aerobic-Studio getanzt und vorgetanzt.

© Hilary Gayle/AppleTV+

Aerobic-Serie: Befreiungstanz

In der Serie „Physical“ bei AppleTV+ geht es um Sportgymnastik, um Geschlechterkampf und um die Geburt eines Millionen-Business..

Die Museen sind voller Innovationen, die seinerzeit von übermorgen waren, aber schon vorgestern Vergangenheit. Wählscheibe oder Walkman, Faxgerät und Floppy Disc, Telegramm oder Telefonzelle, Monchichi, iPod und natürlich sie, Urmutter des interaktiven Home-Entertainments: die VHS-Kassette. Als das Fernsehen noch feste Sendezeiten besaß, schwappte sie aus Japan in die USA, wo sie bis zur (auch schon wieder beendeten) Machtübernahme der DVD 20 Jahre lang ein Dauerbrenner war – und zuweilen sogar Leben rettete.

Etwa das von Sheila Rubin.

Anfang der Achtziger, der neue US-Präsident Ronald Reagan bläst gerade zur konservativen Revolution, droht die Hausfrau und Mutter im misogynen Mittelmaß zu verglühen. Ihrem selbstgerechten Mann ist die Wahl ins Stadtparlament von San Diego wichtiger als sein Familienleben. Das erschöpft sich ohnehin darin, die Ersparnisse zu verjubeln, Sheila in den Hintern zu kneifen oder einen Kaffeebecher hinzuhalten, damit er nachgefüllt wird. Und sie füllt nach. Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr, leidlich kompensiert durch lächelnden Zynismus und zügellose Fressattacken.

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Mehr als einsame Burger-Orgien im billigen Motel hat ihr Dasein im Sonnenstaat Kalifornien nicht zu bieten – bis sie durch Zufall in einem Tanzstudio landet und etwas entdeckt, das ihr Leben verändert: Aerobic. Seinerzeit ähnlich frisch in Mode wie VHS oder Reagan, zieht Sheila metallicbunte Stretch-Klamotten an und bewegt sich wie eine stetig wachsende Zahl Frauen fortan zum zeitgenössischen Pop, dass die Glückshormone fast noch mehr fließen als der Schweiß.

Mit Rose Byrne („Damages“) in der Hauptrolle erzählt die hinreißende Serie „Physical“ zehn Teile lang auf Apple TV+ also, wie sich dieser bildschöne Schmetterling zur verfressenen Raupe Nimmersatt degradieren lässt – um noch glanzvoller aus der Asche ihrer Hochzeit mit Danny (Rory Scovel) aufzuerstehen. Behilflich ist ihr dabei der erfolglose Regisseur Tyler (Lou Tayler Pucci). Erst erpresst sie ihn dafür, hinter der Aerobic-Schule seiner Freundin Bunny (Della Saba) Pornofilme zu drehen. Dann schlägt sie vor, die beiden Geschäftszweige zu kombinieren – und hier kommen die VHS-Kassetten ins Spiel.

["Physical", AppleTV+, ab Freitag]

Ein Jahr bevor Sidney Rome und Jane Fonda der rhythmischen Sportgymnastik zum Weltruhm verhalfen, beschließt Sheila, mit Tylers Expertise Vortanzvideos zu drehen, und wird mit jeder Folge mehr zum Superstar der explodierenden Aerobic-Szene. Dank schlanker Frauenleiber in körperbetonten Trikots eines recyclingfähigen Jahrzehnts könnte „Physical“ spätestens an dieser Stelle zum Kostümfest für Achtziger-Nostalgiker werden. Genau das jedoch hatte Showrunnerin Anni Weisman nicht im Sinn.

Denn so brandneu die Aerobic-Welle anno 1981 scheinbar auf die westliche Selbstoptimierungsgesellschaft zurollte, so uralt war das soziokulturelle Menschenbild dahinter – und hatte damit mehr mit Ronald Reagan oder dem Video Home System gemeinsam als anfangs vermutet. Gemeinsam verfestigten sie nämlich das traditionelle Ordnungsprinzip familiärer Häuslichkeit mit dem reaktionären Disziplinierungsprinzip weiblicher Attraktivität und machen es zum Multimillionengeschäft. Die Hauptverantwortliche mag daran zwar glänzend verdienen. Je größer ihr Erfolg, desto mehr beginnt sie sich jedoch zu verleugnen.

Dauerwellen und Plastikhemden

So authentisch sich die komplementärfarbigen Aerobic-Anzüge zur Dauerwelle auch vom Alltagsambiente moosgrüner Kleinwagen, aschweißer Plastikhemden und staubbrauner Holzvertäfelungen absetzt, so düster zeichnen die Regisseure Craig Gillespie und Liza Johnson die klaffenden Abgründe des glitzernden Showbiz. Denn so beherzt sich Sheila vom Joch klassischer Rollenaufteilungen befreit, so sehr tritt sie selbst dabei nach jenen, die weiterhin darunter leiden. Am liebsten auf ihre Kindergartenbekanntschaft Greta (Deirdre Fiel), die Sheila nach außen respektiert, innerlich aber verachtet.

Umso grandioser ist es, wie die Produktion von AppleTV+ Sheilas Doppelzüngigkeit in famose Kommunikationspointen taucht, die sogar dem opportunistischen Umweltpolitiker Danny weder Respekt noch Fairness verweigern. All die Sollbruchstellen weiblicher Selbstbefreiungskämpfe, die heute „Empowerment“ heißen, mit derart lässigem Humor zu schildern, grenzt da fast an ein Wunder – und ist über die vollen zehn Folgen hinweg originell unterhaltsam.

Jan Freitag

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