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Handarbeit. Joachim Rudolph, genannt „Der Kleine“, und Luigi „Mimo“ Spina treiben den Tunnelbau mit großem Einsatz voran.

© SWR/NBC National Archives

60 Jahre nach dem Mauerbau: Erfolgsstory Flucht

„Tunnel der Freiheit“: Arte zeigt das Remake des SWR-Dokumentarfilms über eine spektakuläre Massenflucht aus Ost-Berlin.

„Was kommt als nächstes? Tunnel 29: Das Musical?“ Mit spöttischem Unterton kommentierte der britische „Guardian“ im März 2020 den medialen Erfolg einer der spektakulärsten Fluchtgeschichten aus dem im August 1961 geteilten Berlin. Zuletzt fand eine Dokuserie des BBC-Radios in Großbritannien mehr als fünf Millionen Zuhörerinnen und Zuhörer.

Aber bevor nun eine global vermarktete Serie ins Fernsehen kommt oder gestreamt werden kann, hat Marcus Vetter seinen im Jahr 2000 mit einem Grimme-Preis ausgezeichneten SWR-Dokumentarfilm „Der Tunnel – Die wahre Geschichte“ neu bearbeitet und ergänzt. Das Remake ist am heutigen Donnerstag, kurz vor dem 60. Jahrestag des Mauerbaus, unter dem Titel „Tunnel der Freiheit“ bei Arte zu sehen. Sechs Tage später wird er auch im Ersten ausgestrahlt.

Die zugrunde liegende Geschichte ist dieselbe: Zwei in West-Berlin lebende italienische Studenten wollen einem deutschen Freund und seiner Familie nach dem Mauerbau zur Flucht verhelfen. Sie entschließen sich, einen Tunnel zu graben, und schaffen es nach mehrmonatiger Arbeit, insgesamt 29 Menschen aus Ost-Berlin in den Westteil zu schleusen. Was diese Tunnelflucht so einzigartig macht, ist die mediale Begleitung beinahe von Beginn an. Denn als die ersten Ost-Berliner am 14. September 1962 erschöpft aus dem Tunnel-Ausgang in der Bernauer Straße 78 klettern, werden sie von den Scheinwerfern und Kameras des US-amerikanischen Networks NBC empfangen. Weil der Tunnelbau aus Geldnot zu stocken drohte, hatten die Studenten Luigi Spina und Domenico Sesto die Filmrechte für 50 000 D-Mark an NBC News verkauft. Nicht alle der insgesamt 41 am Tunnelbau beteiligten Männer und Frauen wussten davon. Später kam es deshalb zum Streit.

[„Tunnel der Freiheit“, Arte, Donnerstag, 20 Uhr 15; ARD, 28. Juli, 23 Uhr]

In Berlin wurden nach dem Mauerbau zahlreiche Tunnel gegraben. Auf einer Liste der Humboldt-Universität finden sich 60 Adressen (tunnelfluchten.de), aber wohl keine erlangte eine ähnliche Berühmtheit wie die vom „Tunnel 29“, der im Osten in der Schönholzer Straße 7 endete. In Deutschland gewann Sat1 mit dem fiktionalen Zweiteiler „Der Tunnel“ 2001 den Deutschen Fernsehpreis. In der Teamworx-Produktion standen unter der Regie von Roland Suso Richter unter anderen Heino Ferch, Alexandra Maria Lara und Sebastian Koch vor der Kamera.

Komplizierte, teils aberwitzige Umstände

Im Gegensatz zum „Event-Film“, der sich eher locker an der Realität orientierte, rekonstruierte Marcus Vetter in seinem 1999 gedrehten Dokumentarfilm die komplizierten, zum Teil aberwitzigen Umstände der von einer Gruppe Studenten organisierten Tunnel-Flucht: Vom Wasserrohrbruch im Westen über die erzwungene Verkürzung des Tunnels im Osten bis zur heimlichen Benachrichtigung der zur Flucht bereiten Ost-Berliner – eine waghalsige Operation, die kein Drehbuchautor hätte spannender ausmalen können.

Die NBC-Bilder kombinierte Vetter mit Zeitzeugen-Interviews und historischen Filmaufnahmen. Diese Elemente, begleitet von einem neuen Soundtrack, bilden auch heute den Kern des Remakes. „Damals war der Film viel mehr aus der deutschen Perspektive erzählt“, berichtet Vetter. Der große Unterschied seien die Dramaturgie und die Einbettung in die größere Kalte-Kriegs-Geschichte.

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So beginnt „Tunnel der Freiheit“ mit dem Besuch John F. Kennedys am 26. Juni 1963, mit Bildern von jubelnden Menschenmassen in West-Berlin und einem längeren Rede-Ausschnitt, der in das unvermeidliche „Ich bin ein Berliner“-Zitat mündet. Wenige Tage nach Beginn des Mauerbaus war freilich nur Vize-Präsident Lyndon B. Johnson in der Stadt, auch gibt es einen Ausschnitt, ebenso wie von Marilyn Monroes Geburtstags-Ständchen für Kennedy. Einleuchtender scheint dagegen, dass die Kuba-Krise im Remake auftaucht. Denn NBC News verschob die Ausstrahlung der Tunnel-Story im Herbst 1962, weil die US-Regierung wegen des drohenden Kriegs mit der Sowjetunion Druck auf den Sender ausübte, wie der ehemalige NBC-Nachrichtenchef Frank Reuven verriet.

Hinzu kommen wenige neu gedrehte Interviews. Luigi Spina und Domenico Sesto sind mittlerweile verstorben. Dafür stehen der betagte Claus Stürmer, der erst später zur Gruppe in West-Berlin stieß und einigen als möglicher Verräter galt, sowie seine Frau Inge, die damals ebenfalls durch den Tunnel fliehen konnte, noch einmal vor der Kamera. Zu dem am Ende angedeuteten Wiedersehensfest kam es nach Vetters Angaben wegen der Corona-Pandemie nicht.

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