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Maris Hubschmid traut sich was

© Doris Spiekermann-Klaas

Maris Hubschmid traut sich was: Aus voller Kehle für null Kohle

In der U-Bahn singen? Eigentlich eine harmlose Mutprobe. Wenn da nur nicht die Leute wären.

Von Maris Hubschmid

Die Anzeige sagt: Ein Zug kommt in sieben Minuten, der andere in neun. Das Warten ist quälend. Schlimmer aber ist der Schock, als die für später angekündigte Bahn zuerst einfährt: „Das geht nicht“, stammele ich, „ich habe mich auf die Gegenrichtung eingestellt!“

Kurz darauf stehe ich vor den Sitzreihen. Die Menschen sehen unfreundlich aus. Ich drücke den Plastikbecher in meiner Hand, so fest, dass er knackt. Ein Mann blickt hoch. Als ich mich wieder gefasst habe, ist es zu spät, noch anzufangen.

Es war nicht meine Idee. Es gab nur kein echtes Argument dagegen: U-Bahn-Singen ist ein harmloser Zeitvertreib. Ich hatte damit begonnen, Songs auszudrucken, die ich mag, die deutschen bald verworfen. Ich wollte mehr Distanz zu dem, was ich tue.

Ein Lied mit vier Tönen: Ideal

Irgendwann trennten mich nur noch zwei Tage von einem Flug, der mich außer Landes bringen sollte. „Dieses Wochenende muss es sein“, drängte die Kollegin. Meine Freundin, die mir zur Seite stehen sollte, musste arbeiten, sagte Samstag und schließlich auch Sonntag ab. Meinem Freund wollte ich das eigentlich ersparen. Doch was ist eine Mutprobe ohne Zeuge? Er nahm eine Flasche Sekt mit. „Wenn du’s durchgezogen hast, wird die geköpft.“

Nicht die Leute angucken, nur nicht gucken ... Wir fahren ja schon! Tief Luft geholt, und da kommt es: „I’m a big, big girl/ in a big, big world.“ Sage niemand etwas gegen diesen Song von Emilia – die Melodie umfasst lediglich vier Töne! Ich singe, ich singe!!! Der Wagen wird langsamer, also schnell mit dem Becher rum, das ist Teil des Deals. Meine Hände zittern, mein Herz pocht heftig. Und galoppiert davon, als niemand mich eines Blickes würdigt. War ich so schlecht? Die Erniedrigung ist perfekt. Mein Freund sagt: Man konnte dich nicht hören. Ich habe mich so auf mich konzentriert, dass ich nur für mich gesungen habe.

Das will ich nicht noch mal erleben. „Entschuldigen Sie bitte, ich werde jetzt singen. Es ist mein erstes Mal und ungeheuer wichtig, dass Geld in diesem Becher landet. Ich war früher im Kirchenchor.“ Jetzt sehen viele Augen mich an. Ich spüre, wie mein Kopf heiß wird, ahne, wie rot er ist. Und verhaspele mich gleich in der ersten Zeile: „I’m a big, big girl in a big, big girl.“ Die Darbietung ist entsetzlich. Doch vier Mädels zücken ihre Portemonnaies. Ich verlasse die Bahn mit zwei Euro 90.

Pause, ich brauche eine Pause! Und Sekt. Schnelle, große Schlucke – das war’s also. Aber war’s das? Als zwölf Minuten später die nächste Bahn einfährt, bin ich plötzlich sicher: Ich kann das besser.

Mut antrinken funktioniert

Programmwechsel, „West Side Story“. Mut antrinken funktioniert. Beim dritten Mal kommt „I feel pretty“ selbstbewusst aus voller Kehle, beim vierten schwinge ich sogar ein bisschen um die Haltestange.

Trotzdem will am Sonntagabend um halb zehn keiner von einer sich selbst überschätzenden Laiensängerin beschallt werden. Aber: Die Menschen geben eher, wenn ich sage, dass dies eine Mutprobe ist. Vielleicht weil mit dieser Erklärung meine Bedürftigkeit widerlegt ist, opfern die meisten nur ein paar Cents. Aber sie tun es und lächeln mir zu.

Und ich? Bin berauscht von dem Gefühl, mich getraut zu haben. Davon, wie sich der Becher füllt – und vom Alkohol. So entschlossen springe ich von einem Waggon in den nächsten, dass wir völlig die Orientierung verlieren. Egal, weiter! Mein Freund sagt, er glaube, es sei besser, wenn wir jetzt nach Hause führen. Der Sekt ist alle, und er hatte nichts davon.

Daheim der Kassensturz: Mit 7,21 Euro nach 65 Minuten bin ich unter dem Mindestlohn geblieben. Aber: Sieh das Mädchen im Spiegel an! Wer kann diese fabelhafte Frau sein? Die Augen strahlen, das Lachen breit – I hardly can believe I’m real.

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