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So schön, so speziell, so EU-gefördert: die Altstadt von Görlitz.

© picture alliance / dpa

Kulturpolitik: Europa rettet die Städte

Mal nix zu meckern: Wie die Milliardenfonds der EU ein Stück europäischer Identität bewahrt haben, ist ein Wunder. Wenn auch ein ignoriertes. Eine Kolumne

Eine Kolumne von Peter von Becker

Weit weg, in der Südsee, hat Paul Gauguin vor 120 Jahren ein mythisches Riesenbild gemalt mit dem Titel „Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir?“ Mit ähnlichen Worten hatte hundert Jahre früher bereits Immanuel Kant die Grundfragen menschlichen Denkens, Handelns und Hoffens formuliert.

Der französische Künstler, der zuvor Börsenbroker in Kopenhagen war, floh das für ihn in seinem Geld- und Warendenken entseelte Europa, wohingegen der Weltgeist Kant seine Geburtsstadt Königsberg fast nie verlassen hat. Doch egal, ob weltläufig oder ortsansässig: Es geht bei diesen unverändert existenziellen Fragen um die eigene Identität und was sie ausmacht. Auch in der Politik sind Identitätsfragen heute überlebenswichtig. Mit Blick auf Europa und das angelsächsische Selbstbild zerreißen sie gerade Großbritannien. Und Populisten, bis hin zu den ultrarechten „Identitären“, schüren das aggressiv. Sie verstehen Fremde als Feinde und Heimat als Festung.

Werte! Nicht Wirtschaft! So das Mantra

Die Europäische Union, um die es nun bei den Wahlen geht, erscheint trotz genereller Zustimmung einer Mehrheit im tiefen Inneren derzeit kaum stärker vereint als das zunehmend Unvereinte Königreich. Seit den Finanz- und Migrationskrisen hat es die EU selten geschafft, sich über die gemeinsame Währung hinaus als wirklich identitätsstiftende Verbindung zu präsentieren. Es gibt zwar die mantrahaften Beschwörungen, statt nur Wirtschaftsgemeinschaft vor allem eine Wertegemeinschaft zu sein. Aber die Demokratie und Menschenrechte bedrohenden Entwicklungen im Osten und Süden Europas oder die neoliberal-unsoziale Steuerpolitik von Luxemburg bis Irland schwächen deren Glaubwürdigkeit. Oft genug beklagt wird dabei von den EU-Verteidigern das fehlende „neue große Narrativ“. Emmanuel Macron versucht sich daran in Ansätzen, Angela Merkel indes ist eine starke Europa-Erzählung wie jede übergreifende Idee (und Rhetorik) schier unbegreiflich fern. Und vor Merkels CDU-Nachfolgerin aus dem Saarland, der Mitte des Kontinents, graust es einen Europäer wie Helmut Kohl noch im Grabe.

Gerade haben bei den Filmfestspielen in Cannes rund 500 Filmkünstler, angeführt von Wim Wenders, in einem Manifest für ein durchaus existentes Europa der „Menschlichkeit und Schönheit“ geworben. Sie sprechen zudem von der nötigen „Seele und Emotionen“. Das klingt wahr und gut, bleibt aber recht allgemein. Jenseits des bekannten Arguments, dass kein europäischer Nationalstaat für sich allein noch globalen Herausforderungen gewachsen wäre, braucht es tatsächlich auch die sinnliche, sinnhafte Erfahrung einer unverwechselbaren europäischen Identität. Ein noch immer erlebbarer Ausdruck dafür ist: die europäische Stadt.

Städte als unverwechselbare Kulturorte

Es ist die Stadt, erwachsen aus der griechischen „polis“ und im Mittelalter aus den exemplarischen italienischen Stadtrepubliken. Die frühesten Bürgergesellschaften haben sich einst um die antike Agora, um das Forum und dann um Domplatz, Marktplatz, Rathausplatz, Universitätsplatz gebildet. Nicht nur in Siena, Salamanca, Rothenburg oder Stratford spürt man dieses Unverwechselbare als kulturelle Heimat (und sieht es als Magnet für Touristen aus aller Welt). Aber woran sich wenige erinnern: Viele der alten, gewachsenen Städte Europas, die den Krieg nur teilzerstört oder sogar unberührt überlebt hatten, drohten seit den 1960/70er-Jahren aus Ignoranz, Verwahrlosung oder Mittellosigkeit zu verfallen und unterzugehen. Heute stehen sie, zumindest äußerlich, wieder blühend da: von Porto bis Palermo, von Güstrow und Görlitz bis zum rumänischen Temeswar. Vor 1980 noch war beispielsweise „vieux“ Lyon neben Venedig die größte Altstadt Europas, ein düsterer Ruinenort, und sollte völlig abgerissen werden. Heute ist es eine Weltsehenswürdigkeit. Teils mit Geldern der Unesco, aber vor allem durch die diversen Fonds der EU hat Europa so vom Atlantik bis zum Schwarzen Meer – vor allem nach der Wende – sein Gesicht bewahrt oder wiedergefunden. Diese zweite Renaissance verdankt der Kontinent ganz wesentlich den Milliarden-Förderprogrammen der Europäischen Union.

Alle reden von Agrar, redet lieber von Kultur!

Die europäische Stadt, die aus der Polis auch die Politik entwickelt hat und deren Mitte kein toter Businessdistrikt ist, sondern ein Ort der lebendigen Begegnung, sie bildet einen Kern der bürgerlichen, demokratischen Identität Europas. Merkwürdig, dass immer von der umstrittenen Agrarpolitik der EU die Rede ist, aber fast nie von ihrer Kulturleistung bei der Rettung der Städte. Sie ist eine tagtäglich zu erlebende Erfolgsgeschichte der EU, von der überraschenderweise fast niemand spricht.

Inzwischen ist dieses Stück europäischer Kernidentität allerdings aufs Neue bedroht. Darum gehören jetzt mehr Klimaschutz und eine Wende der urbanen Sozial- und Verkehrspolitik zur weiteren Bewahrung des Stadtraums. Die nächste Herausforderung für Europas Staaten und Städte ist dann mehr als nur ein Narrativ.

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