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Einen Tag nachdem das Videomaterial an Journalisten der AP übergeben wurde, verschwanden Taira und ihr Fahrer Serhiy.

© Yuliia Paievska via AP

Kriegsalltag in der Ukraine: Sanitäterin filmte zwei Wochen lang das Grauen in Mariupol

Das Videomaterial einer Sanitäterin aus Mariupol wurde in einem Tampon aus der Stadt geschmuggelt. Sie selbst geriet in russische Gefangenschaft.

Mitarbeitern der Nachrichtenagentur AP ist es gelungen, Videomaterialien von einer ukrainischen Sanitäterin aus Mariupol zu schmuggeln. Auf einer kleinen Chipkarte wurden die 256 Gigabyte an Daten in einem Tampon versteckt von den Pressemitarbeitern aus dem Kriegsgebiet gebracht.

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Nur einen Tag, nachdem das Filmmaterial an die Journalisten übergeben wurde, verschwand die 53-jährige Yuliia Paievska, die sich selbst den Spitznamen Taira gab. Kurz darauf verkündeten die russischen Medien die Festnahme der Sanitäterin. Vor laufender Kamera verlas eine sichtlich ausgelaugte Taira eine Erklärung, in der unter anderem ein Ende des Krieges gefordert wird. Die Ärztin wird der mutmaßlichen Flucht und offenbar auch des Organhandels beschuldigt.

Was wird in dem Video gezeigt?

Das Videomaterial wurde laut AP innerhalb von zwei Wochen mithilfe einer sogenannten Bodycam aufgenommen. Auf den Aufnahmen sind Bergungsversuche von Verletzten, aber auch ein russischer Luftangriff auf eine Entbindungsklinik zu sehen.

Tairas Alltag zeigt nicht nur Gespräche mit anderen medizinischen Hilfskräften und Verletzten, sondern auch Situationen, die für viele Betrachter vermutlich nur schwer zu ertragen sind. Am 24. Februar versucht die 53-Jährige beispielsweise verzweifelt, eine offene Kopfverletzung eines ukrainischen Soldaten zu versorgen.

Nur zwei Tage später behandelt sie einen russischen Verletzten in einem Rollstuhl, der ihr erzählt, dass er aus der Region rund um Moskau komme. Taira, die allen ihren Patienten gerne Spitznamen gibt, fragt den jungen Soldaten „Was haben wir dir getan, Sonnenschein?“

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Fast verwundert stellt der Kriegsgefangene fest, dass die ukrainischen Mediziner sich um ihn und seine Verletzungen kümmern. Die Antwort der Ärztin fällt schlicht aus: „Wir behandeln alle gleich.“

Nur wenig später werden der Ersthelferin zwei verwundete Kinder gebracht, die bei einer Schießerei an einem Kontrollpunkt ins Feuer geraten sind. Ihre Eltern wurden bei dem Gefecht getötet. Später in der Nacht muss Taira auch den kleinen Jungen gehen lassen, obwohl sie ihn bei den Wiederbelebungsmaßnahmen inständig darum bittet, bei ihr zu bleiben.

Der Betrachter dieser Szenen schaut durch die Augen Tairas und wird Zeuge des Kriegsgrauens.

Wie konnte das Videomaterial nach draußen gelangen?

Die 256 Gigabyte an Videomaterial wurden auf einen kleinen Datenträger übertragen. Am 15. März übergab ein Polizeibeamter die kleine Karte schließlich nach den Angaben an Journalisten der AP – zu dieser Zeit das letzte internationale Presseteam, das sich noch in der stark bombardierten Hafenstadt Mariupol befand.

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Die kleine Datenkarte, nicht größer als ein Daumennagel, wurde in einem Tampon versteckt und von dem AP-Team über 15 russische Kontrollposten in das ukrainisch kontrollierte Gebiet geschmuggelt.

Nur einen Tag später verschwanden Taira und ihr Fahrer Serhiy.

Was ist mit Taira passiert?

Am 21. März verkündeten die russischen Nachrichtensender, dass die ukrainische Ärztin festgenommen wurde. In den gezeigten Videoaufzeichnungen verliest Taira eine Erklärung, in der sie unter anderem ein baldiges Ende des Krieges fordert. Die 53-Jährige sieht erschöpft, mager und abgekämpft aus. Dies ist die letzte Aufzeichnung der Sanitäterin.

In den russischen Medien wird Taira als Komplizin des ukrainisch-nationalistischen Asow-Bataillons dargestellt, deren Kämpfer bis vor Kurzem noch das Stahlwerk in Mariupol verteidigten. Freunde und Bekannte von Taira berichteten der AP, dass die Sanitäterin keinerlei Verbindungen zu den Asow-Kämpfern unterhielt, sondern lediglich verletzte Soldaten und Zivilisten versorgte – ukrainische sowie auch russische.

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Tairas Ehemann Vadim Puzanov gibt an, dass er seit dem Verschwinden seiner Frau nur sehr wenig Informationen über den Aufenthaltsort und Gesundheitszustand Tairas erhalten habe. Gegenüber der AP sagte er: „Eine freiwillige Sanitäterin aller Todsünden zu beschuldigen, einschließlich des Organhandels, ist schon eine ungeheuerliche Propaganda. Ich weiß nicht einmal, für wen das bestimmt sein soll.“

Wer ist die ukrainische Ärztin Taira?

Die 53-jährige Ukrainierin Taira heißt mit bürgerlichem Namen Yuliia Paievska. Die begeisterte Videospielerin wählte den Namen Taira für einen ihrer Charaktere, als sie noch das Online-Spiel „World of Warcraft“ spielte. Als sich die Medizinerin 2013 den freiwilligen Ersthelfern der Maidan-Bewegung anschloss, wurde Yuliia auch von ihren Mitstreitern fortan nur noch Taira genannt.

Nach der russischen Annektierung der Krim ging Taira in die östliche Donbass-Region. Hier gründete sie eine kleine Sanitätergruppe namens „Taira's Angels“, die sich um die medizinische Versorgung von Zivilisten und Soldaten bemühte. 2019 setzte sie ihre humanitäre Hilfe in der umkämpften Hafenstadt Mariupol fort.

Taira wird von Freunden und Familie als eine herzliche, humorvolle Frau beschrieben, die ihre Kollegen gerne mit Witzen aufheitert. Die Mutter einer Tochter im Teenageralter trägt immer ein Stofftier an ihrer Weste, um verletzten Kindern bei der medizinischen Betreuung die Angst zu nehmen.

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