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Islamistische Gruppen laufen Sturm in den sozialen Medien gegen eine geplante Veranstaltung, zetern über Alkohol, Drogen und unsittliche Kontakte zwischen Jungen und Mädchen bei Festivals (Symbolbild).

© imago/ZUMA Press

Konzerte und Festivals in der Türkei abgesagt: Feiern verboten!

In der Türkei werden reihenweise Konzerte und Musikfestivals abgesagt. Veranstalter beklagen, dass so die Jugendkultur des Landes leidet.

Fünf unbeschwerte Tage lang wollten Rockmusik-Fans in der Türkei diese Woche feiern: Zum Zeytinli-Rockfestival wurden bis Sonntag Zehntausende Fans im westtürkischen Burhaniye erwartet. Doch wenige Tage vor Beginn untersagten die Behörden das Festival. Einspruch zwecklos, wie den Veranstaltern nach vielen ähnlichen Verboten in diesem Sommer klar war. In der Türkei ist es still geworden. Musik ist landesweit ab ein Uhr morgens verboten, die Durchführung von Konzerten und Musikfestivals wird reihenweise untersagt.

Indem sie Musik und Lebensfreude als sittenwidrig dämonisiert, will die Regierungspartei AKP islamisch-konservative Wähler motivieren, trotz der wirtschaftlichen Misere zu ihr zu halten. Radikal-islamische Gruppen erkennen die Gunst der Stunde und setzen immer weitere Verbote gegen westliche Musik und Jugendkultur durch.

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Um die 70 bekannte Künstler sollten beim Zeytinli-Rockfestival auftreten, darunter die Rockband Mor ve Ötesi, die Eurovisions-Siegerin von 2003, Sertab Erener, der Rapper Ceza und die Ska-Band Athena, die schon mit den Rolling Stones gespielt hat. Das Festival in der Provinz Balikesir findet seit 2005 jährlich statt; es war zu einer der größten und attraktivsten Musikveranstaltungen des Landes avanciert, seit die großen Musikfestivals von Istanbul aufgeben mussten, nachdem ihnen seit 2013 die Finanzierung durch Alkoholfirmen verboten wurde.

Islamische Orden äußerten ihre Bedenken gegen das Festival

Nach Zeytinli pilgerten vor der Pandemie-Pause bis zu 250 000 Fans, und auch in diesem Jahr waren schon Tausende Karten verkauft, die von den Veranstaltern nun erstattet werden müssen. „Sie gönnen unserer Jugend nicht, ein paar Tage glücklich zu sein“, klagte die Veranstalterfirma Milyon. Anlass zu dem Verbot seien Beschwerden islamischer Orden gegen das Festival gewesen, argwöhnte Milyon. „Wir wollten den Gerüchten nicht glauben, dass die Behörden sich von diesen Sekten unter Druck setzen lassen, das Festival zu untersagen; aber nun müssen wir einsehen, dass das wohl nicht nur Gerede war.“ Offiziell begründete das Landratsamt die Verbotsentscheidung mit Sorge um die öffentliche Ordnung und den gesellschaftlichen Frieden.

Damit folgte das Verbot von Zeytinli dem Muster, nach dem in diesem Sommer schon reihenweise Konzerte und Festivals im ganzen Land abgesagt wurden: Islamistische und ultra-konservative Gruppen laufen Sturm in den sozialen Medien gegen eine geplante Veranstaltung, zetern über Alkohol, Drogen und unsittliche Kontakte zwischen Jungen und Mädchen bei Festivals, über kurze Röcke von Popsängerinnen oder über anstößige Texte von Rapmusikern; das Spektrum der Beschwerdeführer reicht von Jugendverbänden islamistischer und nationalistischer Parteien über die Gewerkschaft des staatlichen Religionsamtes bis hin zu islamischen Orden und Bruderschaften. Die Behörden verbieten die Veranstaltung dann mit Verweis auf den Volkswillen.

Auch in der westtürkischen Universitätsstadt Eskisehir, die als liberal gilt, wurde ein Festival verboten.
Auch in der westtürkischen Universitätsstadt Eskisehir, die als liberal gilt, wurde ein Festival verboten.

© IMAGO/GocherImagery

Wahltaktisch hat die Regierungspartei von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan dabei nichts zu verlieren, denn Besucher von Rockfestivals würden ohnehin nicht die AKP wählen und sind gesellschaftlich in der Minderheit. Nur 36 Prozent der Türken sehen sich nach einer neuen Studie des demoskopischen Instituts MetroPoll als „modern und säkular“; knapp 32 Prozent verstehen sich als „fromm und konservativ“ und weitere 24 Prozent als „modern und konservativ“.

Musiker, Veranstalter und Fans befinden sich in verzweifelter Lage

Weil der AKP wegen der Inflation die Wählerinnen und Wähler davonlaufen, braucht die Partei ein anderes Thema als die Wirtschaft, um sie an sich zu binden und von der Opposition fernzuhalten. Die Polarisierung zwischen säkularen und islamisch-konservativen Wählerinneren und Wählern ist dabei ein bewährtes Mittel – und Anstand und Sitte dürften konservativen Wählen ebenso wichtig sein wie ihr Geldbeutel.

Doch selbst unter Anhängern der Regierung Erdogans werden inzwischen Zweifel laut, ob sie es bei der Polarisierung nicht zu weit treibt und radikal-islamistischen Gruppen zur Macht verhilft. Der populäre islamische Prediger Cübbeli Ahmet warnt seit Monaten vor einem wachsenden Einfluss von Salafisten im Land, der vom Staat toleriert oder sogar gefördert werde. Der Prediger fürchte sich zu Recht davor, schrieb der Politikwissenschaftler Selim Koru mit Verweis auf Aktivitäten des Islamischen Staats in der Türkei. Möglicherweise stehe die Türkei erst am Anfang einer radikalen Islamisierung.

Für Musiker, Veranstalter und Fans ist die Lage schon jetzt verzweifelt. Die Musiker bekamen während der zweijährigen Corona-Pandemie so gut wie keine staatliche Unterstützung und hofften auf die Konzerte und Festivals in diesem Sommer, um wieder auf die Beine zu kommen. Veranstalter bleiben auf den Kosten sitzen, wenn Festivals im letzten Moment verboten werden und sie die Eintrittspreise erstatten müssen.

Was die Fans angeht, spricht der Kulturkritiker Kenan Behzat Sharpe von einer „gestohlenen Jugend“. „Es ist doch nicht normal, dass junge Leute in ihren Zwanzigern nur noch davon träumen können, was für Leute in ihrem Alter vor zehn Jahren noch normal war“, schrieb Sharpe in der Internetzeitung „Duvar“. Im Ergebnis habe diese Generation nur noch „einen brennenden Wunsch: die Türkei zu verlassen, egal wie“.

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