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Weltbürger und Freund der Frauen. Andrzej Wirth in seiner Wohnung in Berlin.

© Mike Wolff

Kolumne: Moritz Rinke erinnert sich: Mein Professor und der Messinglöwe an seiner Tür

Während seiner Audienzen sprach Andrzej Wirth über Brecht oder Gombrowicz. Jetzt sitzt unser Kolumnist in dessen alter Wohnung und hört seltsame Geräusche.

Professor Andrzej Wirth würde ich zutrauen, auch jetzt überraschend aufzutreten. Zwei Tage nach seinem Tod bin ich alleine in meiner Berliner Wohnung, die einmal seine war. Ich sitze im Wohnzimmer und höre die Badtür zuschlagen. Ich schaue nach, aber da ist niemand. Ich laufe ins Arbeitszimmer, das er Salon nannte, in dem jetzt etwas knarrt. Hier empfing er auf einer Chaiselongue bis in die 90er Jahre Studenten. Es waren die berühmten Audienzen des Theaterwissenschaftlers, Übersetzers und Herausgebers polnischer Weltliteratur. Weltbürger war er auch, immer mit weißem Schal, Freund der Frauen, und vor allem war er Gründer der Angewandten Theaterwissenschaften in Gießen, da habe ich studiert.

Während seiner Audienzen sprach er über Brecht oder Gombrowicz und immer über die Fortuna der Turmkuppel des Charlottenburger Schlosses, die man aus seinem Salon sehen konnte. Die Schicksalsgöttin der römischen Mythologie, die auf einem Kugellager steht und sich, je nach Wind, kaum bemerkbar dreht und deren erhobene Hand Professor Wirth an den Führergruß erinnerte. „Bei Nordwind grüßt sie mich immer in dieser Stellung, da geht der polnische Emigrant nicht mehr aus dem Haus“, sagte er dann in seinem charmanten, irgendwie adligen, polnisch-amerikanischen Deutsch.

Jetzt höre ich die Haustür, jetzt wird es seltsam. Es gab keinen Tag, an dem ich nicht an der Haustür an ihn dachte. Wenn ich die Tür aufschließe, schaue ich auf ein Messingschild: DAMEN, darüber ein Messinglöwe mit Ring durch das Löwenmaul, der Ring ist bewegbar, damit kann man anklopfen. Manchmal klopfe ich selbst bei mir an und stelle mir vor, ich sei Damenbesuch. Der Professor öffnet die Tür und ergreift sofort elegant meine Hand zum Kuss, das konnte keiner so gut wie Wirth.

Sogar der Papst war in der Wohnung

Vielleicht hat man so noch Anfang des letzten Jahrhunderts in Wlodawa, östlich von Warschau, die Hand geküsst, wo Andrzej Wirth am 10. April 1927 geboren wurde, und wo er als Kind auf dem Anwesen seines Großvaters den Landadel beobachtet haben muss.

Natürlich erzählte ich früher meinen DAMEN-Besuchen, wer schon alles in dieser Wohnung war: zuerst natürlich Andrzej Wirth, der Brecht-Assistent, Schüler von Tadeusz Kotarbinski, dem berühmten Repräsentanten der polnischen Logik-Schule, das klang immer beeindruckend. Nachschieben konnte man noch Günter Grass, der als Freund auch in der Wohnung war, ebenso Marcel Reich-Ranicki, Robert Wilson und Karol Wojtyla, also Papst Johannes Paul II. „Das ist nicht wahr?“, sagten alle. „Doch, doch“, sagte ich, „mein Professor und der Papst waren Jugendfreunde, die haben zusammen in Warschau studiert, der Papst wollte Theaterautor werden.“ Dann hätte der Papst eigentlich in Gießen Angewandte Theaterwissenschaften studieren müssen.

Ich stehe immer noch vor der Haustür, drinnen ist es still geworden. Ich schaue auf den Messinglöwen und schraube ihn ab. Er hing dort als Verweis auf den „Messingkauf“, Brechts Gespräche über das Theatermachen. Vor meiner Haustür wende ich auch immer den „stereometrischen Blick“ an, für den Wirth bekannt geworden ist, das multidimensionale, das offene Sehen. Deshalb ja auch das Gefühl, er könnte beim Verlassen der Welt noch kurz in seiner alten Wohnung gewesen sein.

Am 5. April ist Andrzej Wirth im Beisein Hunderter seiner Theaterstudenten in Berlin beigesetzt worden, zusammen mit dem Messinglöwen.

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