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Häkeln gehört dazu. Schüler einer Rudolf-Steiner-Waldorfschule.

© imago/Reinhard Kurzendörfer

Kolumne: Moritz Rinke erinnert sich: „Ich schaue in die Welt, in der die Sonne leuchtet“

Was sich unser Kolumnist von den Waldorfschulen zu deren 100. Geburtstag wünscht.

In den letzten Wochen bekomme ich von Freunden und Bekannten ständig Anfragen, wie es mir als Waldorfschüler so ergangen sei. Sie würden nun auch darüber nachdenken, ihr Kind auf so eine Schule zu schicken – wie ich denn zu diesen Überlegungen stehe? Meist bekomme ich noch Links zu Berichten geschickt, da gibt es ja einiges momentan, denn vor 100 Jahren, am 7. September 1919, gründete der Stuttgarter Fabrikant Emil Molt für die Arbeiterkinder seiner Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik die erste Waldorfschule, zusammen mit Rudolf Steiner.

Die Einrichtungen hätten also genauso gut „Emil-Molt-Schulen“ heißen können oder „Astoria-Schulen“. Molt hatte den Namen für seine Fabrik dem berühmten Hotel in New York entlehnt, das wiederum verdankt seinen Namen der Auswanderer-Familie Astor (Pelzhandel) aus Walldorf (mit Doppel-L) im Rhein-Neckar-Kreis. William Waldorf Astor (Republikaner im Repräsentantenhaus) und sein Cousin Jacob (später mit der Titanic untergegangen) gründeten das Waldorf-Astoria-Hotel, weshalb die Waldorfschulen irgendwie auch etwas mit dem Untergang der Titanic zu tun haben.

Mit dieser Einleitung fange ich immer meine Antwort auf die Schulfrage an, um ein bisschen drum herumzureden. Wie soll ich entscheiden, ob für Kinder, die ich gar nicht kenne, die Waldorfschule das Richtige ist? Ich weiß nicht mal, ob sie für meinen Sohn in eineinhalb Jahren das Richtige sein wird.

Wenn ich die alten Sprüche lese, nicke ich heimlich mit dem Kopf

Zu meiner Zeit gab es konservative und liberale Lehrer. Die einen stürzten sich auf unsere Fußbälle und zerstachen sie mit Messern, weil sie glaubten, dass durch Fußball der Geist in die Füße wandere. Sie zitierten sogar Lothar Matthäus: „Wir dürfen jetzt nur nicht den Sand in den Kopf stecken!“ Die anderen Lehrer ließen uns im Zwölf-Klassenspiel das Drama „Der Besuch der alten Dame“ aufführen, in dem es ja nicht gerade christlich zugeht. Natürlich erinnere ich mich, dass ich meinen Namen tanzen musste. Dass aus meiner Linkshändigkeit eine Rechtshändigkeit gemacht wurde, weshalb ich meine vielversprechende Tenniskarriere an den Nagel hängen musste, ich spielte dann zeitweise die Vorhand mit beiden Armen. Ich musste jeden Tag den Morgenspruch sagen: „Ich schaue in die Welt / in der die Sonne leuchtet“, spätere Zeile: „Ich schaue in die Seele / Die mir im Innern lebet.“

Ich erinnere mich auch, dass meine Freunde, die auf Staatsschulen gingen, schwere Lehrbücher in den Tornistern hatten und ich nur Bienenwachs-Malstifte, aber das gefällt mir im Rückblick. Malen, Gartenbau, Theaterspielen, Musizieren, Handwerken – ich musste sogar bei Frau Viehweger nähen und stricken! –, dazu das Epochenheft schreiben, also zum Epochenunterricht in Geschichte, Erdkunde, Himmelskunde, Tierkunde ... Vielleicht ist das alles heute sogar noch viel richtiger vor lauter Digitalisierung, analoger Idiotie und Klimahorror („... in der die Sonne leuchtet“).

Wenn ich heute die alten Sprüche lese, nicke ich heimlich mit dem Kopf. Wenn ich mir etwas von den Waldorfschulen zu deren 100. Geburtstag wünschen könnte, dann, dass sie sich weiterhin nicht zu Hampelmännern des Zeitgeistes machen – aber die Gegenwart auch nicht ausgrenzen. Und sich nicht so priesterhaft auf Schüler stürzen wie die Lehrer damals auf meine Fußbälle.

Eigentlich hätte ich gerne Waldorflehrer, die so sind wie ich. Die einiges an dieser Pädagogik ganz toll finden, aber übertriebene Esoterik ablehnen. Und die bei Wörtern wie „Anthroposophie“ und „Eurythmie“ auch immer noch mal nachschauen müssen, wie man sie richtig schreibt.

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