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In der Romanverfilmung „Auntie Mame“ nimmt sich die New Yorker Bohemienne (Rosalind Russell) ihres verwaisten Neffen an und beschert ihm ein rasantes Leben.

© akg-images / Album / Warner Brothers

Kein Mutterersatz, aber eine Ergänzung: Warum Tanten unsere Heldinnen sind

Sie schenken Aufmerksamkeit, Furzkissen und Fingerfarben. Tanten sind ältere, coolere, weisere Freundinnen. Eine Hymne.

Sie waren seine Rettung. Angefangen bei Großtante Lore, die sich den kleinen Hanspeter schnappte, im Kinderwagen durch die Blumenwiesen schob und dabei vollquatschte. Nonstop. Vier Jahre lang, jeden Nachmittag um drei, stand sie bestens gelaunt vor der Tür, um mit „Peterhansel Teita“ zu gehen: „Der Junge muss an die frische Luft.“ In seiner gleichnamigen Autobiografie schildert Hape Kerkeling, wie die Ruhrgebietsverwandte ihn zum Selberquasseln animierte. „Jedes Wort, das mir entfährt, wird von ihr belacht, beklatscht und wie ein Olympiasieg gefeiert.“

Dabei war die gute Lore noch nicht mal seine „absolute Lieblingstante“. Die hieß Lisbeth und war Nonne. „Klug, schön, gewitzt, patent, versöhnlich, geduldig, lebensnah und -froh“, zog sie bei der Familie ein, als Hapes Mutter körperlich und seelisch am Ende war. Und nachdem diese sich das Leben genommen hatte, am Tag der Beerdigung, griff sich Tante Veronika, eine wasserstoffblonde Partymaus, seine Hand und hielt sie fest. „Wir zwei stehen das jetzt gemeinsam durch. Wir sind doch nicht aus Zucker!“ Unterstützt wurde sie von Tante Annemarie, die die andere Hand des Jungen nahm. In der Kirche setzten sie sich so weit wie möglich nach hinten, und als es nicht mehr auszuhalten war, der Junge fast erstickte an seinen Tränen, zogen sie ihn ins Freie und steckten sich zur eigenen Rettung erst mal eine Zigarette an.

Sie schenken Aufmerksamkeit und Furzkissen

Auf Tanten kann man bauen. Nicht umsonst heißen die Kolumnisten, die die heiklen Fragen des Lebens beantworten, Kummerkastentanten. Selbst wenn Männer dahinterstecken. Als die „agony aunt“ des „Guardian“ kürzlich nach zehn Jahren im Amt Zwischenbilanz zog, stellte sie fest, dass das mit Abstand häufigste Problem, mit dem sie konfrontiert wurde, das schwierige Verhältnis zur Mutter ist. Da haben Tanten es einfacher.

Das Verhältnis mag nicht so eng sein wie zur Mama, dafür ist es in der Regel auch nicht so kompliziert. Sie sind kein Mutterersatz, keine Alternative – eher eine Ergänzung. Manchmal auch ein Gegenentwurf. „Unsere älteren, cooleren, weiseren Freundinnen“, so feiert ein amerikanisches Buch über „Aunties“ diese im Untertitel. Nah genug für eine emotionale Beziehung, fern genug, um sich nicht zu verheddern im Beziehungsgeflecht.

Bei ihnen muss man keine Schulaufgaben machen und das Zimmer aufräumen, sie meckern nicht, wenn man zu spät nach Hause kommt, im Zweifelsfall gehen sie selber mit aus. Die Tanten sparen sich den Alltag und widmen sich – gut ausgeschlafen, sie müssen ja nachts nicht raus –, dem gemeinsamen Vergnügen: Kino, Minigolf, eine Reise nach Rom. Sie schenken Aufmerksamkeit, Furzkissen und Fingerfarben, dürfen unvernünftig wie die Kinder sein.

Dürfen sie? Müssen sie nicht erwachsen werden, Verantwortung übernehmen und selber Nachwuchs produzieren? Manchmal werden sie von der Verwandtschaft wie Kinder belächelt. Als wäre Tante sein ein Spleen. Wesen, die zur Übertreibung neigen, weswegen man sie als Suffix an alles dranhängen kann, wofür sie ein besonderes Faible haben. Kaffeetante, Ökotante, Psychotante ...

Eine Tante wie Katharine Hepburn

Eigentlich wird man Tante ja ohne eigenes Zutun, weil andere einen dazu machen, indem sie ein Baby auf die Welt bringen. So viel zur Biologie. Man kann sich für diese Rolle aber auch bewusst entscheiden. Berühmtes Beispiel: Katharine Hepburn. In ihrer Autobiografie erzählt die amerikanische Schauspielerin, dass sie diese Rolle schon gegenüber ihren viel jüngeren Schwestern einnahm. Die besuchten sie in New York, „ich zog sie an und ging mit ihnen ins Theater, in Kinos und Museen und unternahm weitere aufregende Dinge mit ihnen.“ Wie die reiche Tante sei sie sich vorgekommen. „Ich bin sicher, dass ich deshalb nie eigene Kinder hatte.“ Und wer hätte nicht gern eine Tante wie Katharine Hepburn, glamourös, schlagfertig, sportlich, unabhängig, dabei ein ausgeprägter Familienmensch. Vier Nichten und neun Neffen hatten das Vergnügen von Aunt Kate. Das letzte Bild in ihrer Autobiografie zeigt sie als alte Dame auf dem Skatebord, mit Schwung.

Sie mögen keine Hollywoodstars gewesen sein – aber flotte, mondäne Tanten hat es in vielen Familien gegeben. Frauen, die sich die Freiheit nahmen, als diese ihnen noch nicht zugebilligt wurde, zu arbeiten, nach der eigenen Façon zu leben.

Literatur und Film sind voll von schillernden Tanten. „Auntie Mame“ zum Beispiel, ein Megahit aus den 50er Jahren, als Roman (zwei Millionen verkaufte Exemplare), Theaterstück, Musical und Film, über eine frei liebende New Yorker Bohemienne, die erst mittags aufzustehen pflegt. Oder Graham Greenes „Travels With My Aunt“. Augusta, ebenfalls Exzentrikerin, aber nicht ganz so harmlos und herzlich wie Mame, hat sich bewusst für das freie Tanten- und gegen das Muttersein entschieden: Als Rentner erfährt der Neffe, dass er ihr Sohn ist.

In dem Film „Jenseits der Stille“ ist Clarissa alles, was die Eltern der Hauptfigur nicht sind, urban, musikalisch, wohlhabend – und nicht taub. Schon wie sie in der Eröffnungsszene über den zugefrorenen See gleitet, in dem sie im Sommer nachts schwimmen geht: Wenn das keine Freiheit ist! Wobei sie sich später auch als Gefangene entpuppt und keine ganz selbstlose Förderin ihrer Nichte ist. Typ: dominante Tante.

Es gibt auch die abstoßenden, bösen, stiefmutterähnlichen

Harry Potters fiese Tante. Petunia Dursley (Fiona Shaw) konnte den kleinen Zauberer nie leiden.
Harry Potters fiese Tante. Petunia Dursley (Fiona Shaw) konnte den kleinen Zauberer nie leiden.

© imago/Prod.DB

Dass diese Angehörigen ein wichtiger Teil des komplexen Kosmos Familie sind, scheinen Schriftsteller und Drehbuchautoren besser begriffen zu haben als Soziologen und Psychologen, die oft im Nukleus Vatermutterkind stecken bleiben. „The Forgotten Kin“, „Die vergessene Verwandtschaft“, hat der Soziologe Robert M. Milardo seine rare Studie zum Thema genannt. In der Kunst scheint die Tante fast ein eigenes Rollenfach zu sein. Zwar ein zum Stereotyp neigendes, häufig überspitzt porträtiertes, aber immerhin mit einer großen Bandbreite. Da gibt es die lieben, die lustigen, die naiven – und die abstoßenden, bösen, stiefmutterähnlichen, wie man sie aus „Harry Potter“ oder von Jane Austen kennt; auch Hape Kerkeling hat eine fiese Tante gehabt.

Der Kinderbuchautor David Walliams hat dem Modell einen ganzen Roman gewidmet, „Terrortantchen“. Seine schreckliche Alberta, die ihre Nichte ums Erbe prellen will, ist ein Extremfall jener übergriffigen Wesen, die einen ungefragt abschlabbern oder zwingen, den kratzigen Pullover, ein Weihnachtsgeschenk, anzuziehen. Wesen, bei denen es müffelt und angebrannte Linsensuppe zu essen gibt.

Alberta hat keinen Mann, sondern eine Eule. Unverheiratet und kinderlos, das scheint die Definition der Tante zu sein. Ist natürlich Quatsch, auch Mütter haben Nichten und Neffen, nur nicht so viel Zeit für sie, weil sie mit dem eigenen Nachwuchs beschäftigt sind. Während die ledigen Verwandten diese gerade in einer Ära hatten, als Berufstätigkeit und Frausein sich zumindest im Adel und Bürgertum ausschlossen. Also wurden sie als Anstandsdamen mit den Nichten auf Bälle und Reisen geschickt.

Einst waren alle Frauen Tanten

Es gibt Namen, die schreien nach dem Zusatz Tante. Inge oder Lisbeth zum Beispiel. Da hat jeder sofort Assoziationen. Weswegen Tanten sich als Marketinginstrument bestens eignen. Gerade heute, Vintage ist cool. Schon mal bei Tante Käthe in Prenzlauer Berg gewesen, der Fußballkneipe? Oder bei Aunt Benny in Friedrichshain Kaffee getrunken? Bei Aunt Benny denkt man sofort an das häusliche, gemütliche Gegenmodell zur glamourösen Tante, die so leckeren Streuselkuchen und Apple Pie backen kann. Der bekannteste Pancake-Mix der USA heißt Aunt Jemima.

Die altmodischen Exemplare waren bei allen Familienfesten dabei, tranken Likörchen, hielten Taschentücher sowie gute Ratschläge auch ungefragt parat, sprangen im Notfall als Mutterersatz ein. Man wusste oft gar nicht, wie oder ob man überhaupt mit ihnen verwandt war, aber das schien fast egal. Jeder hat sie gehabt, Biotanten und Nenntanten, Großtanten und Patentanten.

Ja, einst waren alle Frauen Tanten. Zumindest wurde Kindern das suggeriert, wenn man sie aufforderte, jemandem artig die Hand zu schütteln: „Sag der Tante guten Tag.“ Eine vertrauensbildende Maßnahme, weil man den Kleinen doch sonst einbläute, vor Fremden auf der Hut zu sein? Tanten, so die Logik, zählen immer zu den Guten, zu denen man jederzeit kommen kann, die einen versorgen. Daher der Name Tante-Emma-Laden. Ein Hort des Menschseins. Die Tierwelt scheint die Rolle der Tante nicht zu kennen.

„Panks“, die Supertanten von heute

Und heute? Scheint sie fast vom Aussterben bedroht zu sein. Als Anrede ist sie, anders als Mama und Papa, verschwunden. Die Käthes von heute werden allein mit dem Vornamen angesprochen. Was diesen durchaus recht ist. Als Tante vorgestellt, fühlen sie sich gleich 20 Jahre älter. Zudem sind die Familien stark geschrumpft – wo ein Einzelkind, da keine biologische Tante – und wohnen, anders als Hape Kerkelings Clan, übers Land oder die Welt verstreut. Umso wichtiger werden Wahlverwandte, auch Schwule, die zuweilen Tantenfunktion übernehmen. Es gibt sogar eine Theorie, nach der Tunte von Tante kommt. Im Französischen ist Letzteres ein Schimpfwort für Homosexuelle.

Zumindest theoretisch können Frauen heute alles haben, müssen sich nicht entscheiden, ob sie Mutter oder Tante, berufstätig oder Hausfrau sein wollen - dürfen es aber entscheiden. Denn „Alleshaben“ ist anstrengend. In den USA sind knapp 43 Prozent der Frauen unter 44 kinderlos, hat eine clevere Marketingfrau (selber ohne Nachwuchs) vorgerechnet. Gerade die gut ausgebildeten und verdienenden „PANKS“, wie sie sie nennt, Professional aunts no kids, stellen einen gewaltigen Markt dar, den es zu schröpfen gilt. Also startete sie einen Blog, „Savvy Aunts“, schrieb ein Buch, „The Otherhood“ (statt Motherhood), führte den „Auntie’s Day“ als Pendant zum Muttertag im Juli ein. Eine schwer erträgliche Mischung aus Sentimentalität und Kommerz.

Dazu sind Tanten zu schade. Die Dortmunder Psychologin Susanne Guski-Leinwand plädiert dafür, sich ihrer stärker als „Ressource“ der Familien zu besinnen: Verwandte, die vielleicht im Hintergrund stehen, aber eine wichtige Rolle im Gefüge spielen. Wie ihre Großtante, die ihrem Vater, ihrer Schwester und ihr nach der Scheidung der Eltern in ihrer winzigen Wohnung alle zwei Wochen Asyl gewährte. So wie es der Soziologe Milardo in seiner empirischen Studie beschreibt: Dass sie als Mentoren und „Partisanen-Unterstützer“, mal für die Eltern, mal für die Kinder auftreten, mit Jugendlichen über Drogen und Sex reden. Was diese sehr zu schätzen wüssten: dass Tanten nicht so schnell urteilen.

Was auch umgekehrt gilt. Das Verhältnis ist keine Einbahnstraße, Tanten profitieren genauso von Nichten und Neffen. Eine Win-win-win-Situation.

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