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Der Maestro. Im Maison symphonique steht Nagano regelmäßig auf der Bühne.

© Aintoine Saito / Promo

Kanada: Das Montréal von Kent Nagano

Der Dirigent leitet seit 13 Jahren das Symphonieorchester der Großstadt. Hier erklärt er, warum Eishockey in Québec dazugehört und wo es das beste Sushi gibt.

Centre Bell

Ich bin Kalifornier, dementsprechend hat Eishockey für mich nie eine Rolle gespielt. In Montréal änderte sich das. Als ich meine Arbeit beim Orchestre symphonique de Montréal (OSM) begann, wollte ich „Ein Heldenleben“ von Richard Strauss ins Repertoire aufnehmen. Dazu musste ich herausfinden, welche Beziehungen die Montréalais zu diesem Thema haben und fragte herum: Wer sind eure Helden? Gibt es Staatsmänner, die ihr verehrt? Jemanden wie George Washington? Die Rückmeldungen brachten mich nicht weiter. „So ein Heldenkult ist uns fremd“, hieß es fast unisono. „Aber es muss doch jemanden geben, zu dem ihr aufschaut!“, entgegnete ich.

Irgendwann wurde klar, es ist ihr Eishockeyteam, das im Centre Bell (Avenue des Canadiens-de-Montréal 1909) zu Hause ist. Auf die Canadiens de Montréal können sich alle einigen. Hier wurde schon immer viel Schlittschuh gelaufen, die Winter können ja harsch sein. Auf dem Eis ist es egal, aus welcher Familie du kommst, ob du Französisch oder Englisch sprichst. Alle sind gleich.

Also nahm ich Kontakt zu den Canadiens auf und bat den kanadischen Komponisten François Dompierre um eine Eishockey-Ode, die unser Orchester beim Konzert nach Strauss’ „Heldenleben“ spielte, dazu lasen ehemalige und aktive Spieler kurze, persönliche Texte eines Québecer Autors. Sicher, viele kamen zum Konzert, weil sie ihren Star Guy Lafleur sehen wollten, aber dann hörten sie auch Strauss und diese schöne, ernste Musik von Dompierre. Etwas später wurde das Orchester 75 Jahre alt, und die Canadiens blickten auf 100 Jahre Vereinsgeschichte zurück. Das haben wir zusammen gefeiert, mit 15 000 Besuchern im Centre Bell.

Das Centre Bell, Heimstätte der Canadiens de Montréal.
Das Centre Bell, Heimstätte der Canadiens de Montréal.

© Francois Lacasse / Promo

So wie das Orchester schwierige Zeiten kannte, haben es auch die Canadiens nicht immer leicht. Einst dominierten sie die Weltspitze, nun ist es schon mehr als ein Vierteljahrhundert her, dass die wichtigste internationale Trophäe, der Stanley Cup, nach Montréal kam. Der Stimmung im Centre Bell macht das nichts. Alle sind mit so viel Herzblut dabei, die Spieler und ihre Anhänger. Wer ein Match sieht, kann gar nicht anders als begeistert zu sein. Ob ich mittlerweile ein Fan bin? Ein ganz verrückter sogar, meine Frau und meine Tochter ebenfalls.

Schlittschuhbahn

Man muss kein Hockeyspieler sein, um in Montréal aufs Eis zu kommen. Ich mag besonders die Patinoire Natrel am Vieux Port unter dem Riesenrad. Als unsere Tochter drei oder vier Jahre alt war, sind wir mit ihr hergekommen, daraus ist eine richtige Wintertradition geworden. Ich habe hier zum ersten Mal Schlittschuhe an den Füßen gehabt, wahrscheinlich zu spät – besonders gut bin ich jedenfalls nicht. Das ist aber egal, genau wie die Chartmusik, die zugegebenermaßen schrecklich ist. Es geht einfach darum, Zeit miteinander zu verbringen, Spaß zu haben und sich den Duft von Würstchen um die Nase wehen zu lassen, während man – anders als beim Hockey – draußen auf einer natürlichen Eisbahn seine Runden zieht.

Schlittschuhlaufen am Vieux Port, dem Alten Hafen.
Schlittschuhlaufen am Vieux Port, dem Alten Hafen.

© Eva Blue / Promo

Maison symphonique

Das Konzertgebäude ist nicht nur mein Arbeitsplatz, es erzählt auch viel über Montréal und die Provinz Québec. Das sieht man vor allem im Inneren. Anders als viele nordamerikanische Konzerthäuser ist der Saal klar, schlicht und hell gestaltet. Es wurden Buchenholz und Textilien aus der Region verwendet, auch die Orgel der „Casavant Frères“ kommt von hier. Die Akustik ist klar genug, dass man die Musik akkurat hören kann, lässt aber genug Raum für die eigene Vorstellungskraft. Was soll ich sagen? So klingt Montréal, so klingt Québec, diese Schnittstelle zwischen Tradition und Moderne, Alter und Neuer Welt. Die europäische Ästhetik spielt hier noch immer eine wichtige Rolle. Französisch ist die einzige Amtssprache in Québec, wobei man auch viel Englisch hört, in Montréal gibt es sogar italienisch- und deutschsprachige Ecken.

Europäischer wird es nicht in Nordamerika: Der Konzertsaal des Maison symphonqie.
Europäischer wird es nicht in Nordamerika: Der Konzertsaal des Maison symphonqie.

© Yannis Guillon / Promo

Das spiegelt sich im Programm des OSM wider, das ich seit 2006 leite. Natürlich könnten wir Leichtes und Gefälliges anbieten, aber wir wollen der sinfonischen Tradition gerecht werden, das heißt, französische, finnische, italienische und deutsche Komponisten nehmen viel Platz ein im Repertoire. Das scheint aufzugehen, denn nach Jahren der Krise sind die Konzerte nun fast immer ausverkauft. Und unser Publikum ist vergleichsweise jung, viele Besucher sind in den 30ern. Wenn ich in die Reihen schaue, sehe ich ein Abbild der Stadtgesellschaft. Das Maison symphonique (Saint Urbain Street 1600) ist wirklich ein belebtes Haus. Das Orchester, das hier seit der Einweihung des Gebäudes im Jahr 2011 etwa 100 Konzerte pro Jahr gibt, probt auch im Saal.

Wir sind in bester Nachbarschaft, mitten im historischen Vergnügungsviertel, dem Quartier des spectacles in Downtown. Auf rund einem Quadratkilometer versammeln sich große Veranstaltungssäle für Shows und Konzerte, Kinos, Galerien, und ein paar kleine, mehr als 100 Jahre alte Theater. Im Sommer finden ständig Openair-Events statt, etwa das Jazz-Festival. Die Montréalais lieben es, sich gemeinsam zu amüsieren, und das spürt man hier ganz besonders.

Musée McCord

Das Publikum zu verstehen, ist Teil meiner Arbeit. Die Werte einer Gemeinschaft und ihr ästhetisches Empfinden ergeben sich zu einem großen Teil aus den lokalen Traditionen, da setze ich an. Zu Beginn meiner Zeit beim OSM habe ich drei Jahre lang die Geschichte Québecs studiert, viel gelesen und mit Leuten gesprochen.

Das Musée McCord (Sherbrooke Street West 690) ist eine gute Adresse, um etwas über Montréal und die Provinz zu erfahren: ein historisches Museum, das immer wieder Brücken in die Gegenwart schlägt. Ich habe hier zum Beispiel gelernt, was der Vieux Port, der Alte Hafen, für die Stadt bedeutet. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts war er ein wichtiger ökonomischer Knotenpunkt für das gesamte Land, fast alle großen Schiffe luden hier ihre Fracht aus, weil der Sankt-Lorenz-Strom danach zu schmal wird. Somit ist Montréal eine Hafenstadt, obwohl sie im Landesinneren liegt. Es dürfte eine ähnliche Dynamik wie in Hamburg geherrscht haben, bestimmt durch Migration und Handel, auch mit dem Orient. Das merkt man Montréal bis heute an. Die Stadt wirkt auf mich kosmopolitisch, obwohl in ihr – lassen wir das Umland außen vor – gerade mal 1,7 Millionen Menschen leben.

Church of St. Andrew and St. Paul

Diese Kirche habe ich entdeckt, als ich zum ersten Mal in Montréal war. Reiner Zufall, sie war in der Nähe meines Hotels, ich mochte sie gleich. Wenn ich sonntags in der Stadt bin und am Abend nicht dirigiere, komme ich gern zum Gottesdienst. Die Gemeinde hat einen tollen Chor und ein anspruchsvolles Kirchenmusikprogramm, das mich an deutsche protestantische Verhältnisse erinnert. Mit dem Orchester haben wir hier, unter der gewölbten steinernen Decke, auch schon gespielt.

Die Church of St. Andrew and St. Paul in Downtown Montréal.
Die Church of St. Andrew and St. Paul in Downtown Montréal.

© Mario Melillo / Promo

Das Gebäude wirkt mit seinem neogotischen Stil zwar alt, ist aber erst in den 30er Jahren erbaut worden. Fast auf der ganzen Länge des Kirchenschiffs hängen historische kanadische Flaggen, auch solche mit dem Union Jack. Wie im Maison symphonique gibt es hier eine Orgel der „Casavant Frères“, nur noch ein Stück größer. Wer sie einmal in voller Pracht hören will: Karfreitag erklingt die Markuspassion.

Musée des beaux-arts

Ich war noch Gastdirigent am OSM, da wurde hier eine spektakuläre Monet-Ausstellung samt Wasserlilien gezeigt. Wie sich herausstellte, hatte fast das ganze Orchester die Schau ebenfalls gesehen, und als es bei den Proben einmal hakte, bat ich die Musiker, so zu spielen, wie das Blau an einer Stelle auf dem Gemälde aussieht. Es klang perfekt, wie es sein sollte!

Das Musée des beaux-arts zeigt regelmäßig hochkarätige Ausstellungen, derzeit eine Thierry-Mugler-Werkschau.
Das Musée des beaux-arts zeigt regelmäßig hochkarätige Ausstellungen, derzeit eine Thierry-Mugler-Werkschau.

© Terry Rishel / Promo

Seither habe ich das Museum (Sherbrooke Street West 1380) oft besucht, ein sehr ambitioniertes Haus, so etwas würde man in einer Stadt von der Größe und Bedeutung Montréals gar nicht erwarten. Ein Fenster, das zeigt, was kulturell in der Welt passiert. Bis zum 8. September ist die erste große Werkschau des avantgardistischen Designers Thierry Mugler noch zu sehen. Ganz Montréal redet gerade darüber.

Restaurant Furusato

Auch wenn ich japanisch aussehe – schon meine Eltern wurden in den USA geboren. Aber meine Frau, die Pianistin Mari Kodama, ist Japanerin und noch dazu sehr kritisch. Sie sagt, besser als im familiengeführten „Furusato“ kriegt man ihre Landesküche nicht. Praktisch, dass es nicht weit entfernt vom Maison symphonique ist. Auf der Karte stehen Sushi, etwa mit würzigen pflaumenähnlichen Umeboshi, außerdem Udon-Nudelgerichte, gegrillte Fische, japanische Fondues. Was ich empfehle? Alles! Dass das Essen so gut ist, sieht man dem Lokal von außen nicht an. Das Haus ist in einem schlechten Zustand, von der Straße aus geht man ein paar Treppenstufen ins Souterrain hinab, im kleinen, einfachen Gastraum stehen nur ein paar Tische. Da könnte man denken: „Hier geht Kent Nagano essen? Überhaupt nicht fancy!“ Aber es schmeckt, ich wurde noch nie enttäuscht.

Reisetipps für Montréal

Von Berlin etwa mit Wow Air in circa elf Stunden via Reykjavik nach Montréal. Hin und Zurück ab 260 Euro. Nahe des Maison symphonique bietet etwa das Hotel Doubletree by Hilton Zimmer ab rund 100 Euro pro Nacht.

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