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Schwarz-grün. Und hier gedeiht Reggae? Resonanzboden für den typischen Offbeat gibt’s auf der Insel reichlich.

© Moritz Honert

Island: Eine musikalische Tour über die Halbinsel Reykjanes

Nieselregendusche, in der Ferne ahnt man das Meer: Der Herbst ist die beste Jahreszeit, die Quelle der isländischen Popkultur zu entdecken.

Grün, schwarz, grau. So weit der Blick reicht. Und der reicht weit. Kein Baum. Nirgends. Über die regennasse Landstraße 44 geht es zwischen schroffem Meer und moosbewachsenem Lavagestein von Reykjanesbaer gen Süden. Das majestätisch karge Land und die Windböen, die den Fahrer zwingen, das Lenkrad mit beiden Händen festzuhalten, vermitteln einen Eindruck, wie hart das Leben hier draußen gewesen sein muss vor der Erfindung der Daunenjacke und mittels Geothermie betriebener Zentralheizung. Wie nur um alles in der Welt kommt hier jemand auf die Idee, Reggae zu spielen?

Guðmundur Kristinn Jónsson zuckt mit den Schultern. Ja, manche begegneten der Musik seiner Band Hjálmar erst mal mit Skepsis. Isländer, die Reggae spielen ... Manch einer fragt sogar: Dürfen die das überhaupt? Als er mal in Jamaika aufgenommen hat, erzählt der gemütliche Mittvierziger mit dem roten Vollbart und dem grünen Filzhut, wollten die einheimischen Musiker am Anfang nicht mit ihm reden. Jónssons Mund verzieht sich zu einem Grinsen. „Nach ein paar Takten hatte sich das dann aber erübrigt.“

Rot-grün. Guðmundur Kristinn Jónsson spielt in der Band Hjálmar.
Rot-grün. Guðmundur Kristinn Jónsson spielt in der Band Hjálmar.

© Moritz Honert

Allgemein hält er wenig von der Idee, irgendetwas, auch nicht Kultur, als hermetisches System zu begreifen: „Der Reggae wurde doch auch von fremden Einflüssen bereichert. Alles kommt irgendwoher, alles entwickelt sich irgendwohin“, sagt Jónsson und schaut sich um in dem kleinen Geimsteinn Musikstudio in dem Örtchen Reykjanesbaer. Auf dem Boden liegen abgewetzte Perserteppiche, darauf stehen ein Schlagzeug, alte Röhren-Verstärker, Orgeln. An den Wänden hängen E-Gitarren.

Bis heute gilt die Halbinsel Reykjanes südwestlich der Hauptstadt Reykjavik als Quell der isländischen Popmusik: Jónssons Band Hjálmar fand hier zusammen, der Singer-Songwriter Ásgeir lebte als Kind um die Ecke, was er auf seinem kommenden Album auch thematisiert, die heute ebenfalls international erfolgreiche Gruppe Of Monsters and Men wuchs nicht weit entfernt auf. All das sei aber nicht aus dem Nichts entstanden, führt Jónsson seine Theorie von Ursache und Wirkung aus, sondern großteils dem Geimsteinn Studio zu verdanken. Das wiederum schuldet seine Entstehung der Weltpolitik, die massiv geprägt wurde von Islands geografischer Lage, die wiederum mit der speziellen Geologie zu erklären ist. Vielleicht beginnt man die Historie der isländischen Rockmusik also am besten bei den Steinen.

Clint Eastwood hat hier „Briefe aus Iwo Jima“ gedreht

Nach einer knappen halben Stunde Fahrt über die Landstraße 44 liegt linkerhand ein Parkplatz. Über einen Bohlenweg stemmt man sich gegen den schneidenden Wind, die Nieselregendusche und steht kurz danach auf einer Anhöhe aus schwarzem Sand. In der Ferne ahnt man das Meer. Irgendwo da unten im Nebeldunst hat Clint Eastwood seinen Film „Briefe aus Iwo Jima“ gedreht.

Noch ein paar Meter weiter und man erreicht eine Brücke aus Metall und Holz. Sie überspannt eine knapp 20 Meter breite Schlucht, die durch das Auseinanderdriften der Europäischen und Nordamerikanischen Erdplatte entstanden ist. Hier, unter Island, verläuft der Riss.

Links liegt die europäische, diesseits der Brücke die nordamerikanische Platte.
Links liegt die europäische, diesseits der Brücke die nordamerikanische Platte.

© Moritz Honert

Die daraus resultierenden und bis heute anhaltenden vulkanischen Aktivitäten führten vor 15 bis 20 Millionen Jahren zur Entstehung der Insel. Seitdem driften die Platten auseinander. Zwei Zentimeter pro Jahr. Wer mag, kann das symbolisch betrachten.

Die Amerikaner brachten Kriegsgerät und Rock’n’Roll

Und damit zur Geografie und der Weltgeschichte. Als in den 1940er Jahren ein politischer Riss durch Europa lief, brauchten die Amerikaner Island als Stützpunkt für die Atlantiküberquerung ihrer Schiffe und Bomber. 1942 stampften sie in dem Fischerdorf Keflavík, das 1994 mit Njarðvík und Hafnir zu Reykjanesbaer vereint wurde, einen Flugplatz aus dem Boden. Es wurde schnell voll. 1943 waren fast 45 000 US-Soldaten auf Island stationiert. Mehr als es einheimische Männer gab.

Die Nachfahren der Wikinger waren am Anfang nicht so richtig begeistert. Besonders die jungen Männer mochten die in schneidige Uniformen gekleidete Konkurrenz nicht, die sich in ihrem damals bitterarmen Land breitmachte und die – wie die Einheimischen heute witzeln – im Gegensatz zur Inselbevölkerung „mit Messer und Gabel essen konnte“. Nicht selten kam es zu Prügeleien, manche junge Frau wurde gar in die Berge verbannt, weil sie sich mit Soldaten eingelassen hatte. Die Kinder, die sie gebaren, stigmatisierte man mit dem Nachnamen Hermaðurson („Soldatenkind“).

Ein paar Jahre später entspannte sich das etwas, denn die Amerikaner brachten neben Kriegsgerät und Wirtschaftshilfe noch etwas anderes auf die Insel: Rock’n’Roll. Und damit schließt sich der Kreis zu Jónsson und den Geimsteinn Studios. „Die Jugend hörte das natürlich begeistert“, erzählt der Gitarrist beim Kaffee, der hier zu allen Tages- und Nachtzeiten ausgeschenkt wird. „Und anders als die Jugend in der Hauptstadt hatte die in Keflavík Auftrittsmöglichkeiten.“ Auf dem Stützpunkt gab es ein paar Clubs und die rund 3000 Soldaten, die den Kalten Krieg nach den Vorfällen der 40er Jahre in den Baracken zuzubringen hatten, waren dankbar für jede Ablenkung.

Runar Júlíusson hat die heimische Musik beeinflusst wie kein anderer

Das Museum beheimatet auch eine Musikschule und einen Konzertsaal.
Das Museum beheimatet auch eine Musikschule und einen Konzertsaal.

© Moritz Honert

Einer der jungen Musiker war Runar Júlíusson, Jahrgang 1945. Mit seiner Band „Hljómar“ schuf er 1963 nicht nur so was wie die isländischen Beatles und blieb nach deren Auflösung einer der beliebtesten Solokünstler. 1976 gründete Júlíusson auch noch das Geimsteinn Label und 1982 die gleichnamigen Studios. „Wir konnten ihn einfach fragen, und er lieh uns ein Mikro oder gleich eine ganze Gesangsanlage“, erinnert sich Jónsson. „Nicht mal als wir die kaputtgemacht haben, war er sauer.“ Júlíusson produzierte mehr als 300 Platten, oft mit ambitionierten Kindern aus der Nachbarschaft. „Mit den meisten hat er wohl nur Geld verloren, aber auch das war ihm egal“, erzählt Jónsson, der bald ständig im Studio rumhing und dabei irgendwann über den Reggae stolperte. „Für einen mittelmäßig begabten Gitarristen wie mich“, sagt er, „war das eine Offenbarung.“ Sorgen, wem Kultur gehört und wer sie sich aneignen darf, machten sich damals wenige.

Wie stark Júlíussons Band Hljómar vom englischen und amerikanischen Beat inspiriert war, kann man ein paar Hundert Meter vom Studio entfernt hören. Dafür läuft man vorbei am Hallenbad, wo ein Großteil der lokalen Bevölkerung den Tag mit Sport und Smalltalk im Becken beginnt, und landet schließlich vor einem supermarktgroßen weißen Gebäudekomplex. Auf der Fassade prangen in leuchtendroten geschwungenen Buchstaben die Worte „Rokksafn Íslands“. Im Innern befinden sich eine Musikschule, ein Konzertsaal – und das neue „Isländische Rock’n’Roll Museum“.

Als Name stand auch mal „Rock Museum of Iceland“ zur Debatte, sagt der großgewachsene Direktor Tómas Young, der im Foyer empfängt. Aber da beschwerten sich die Geologen über die diesmal missverständliche Verbindung zwischen Gestein und Musik … Rock bedeutet auf Englisch ja auch Fels.

Eine ganze Wand ist Björk gewidmet

Entlang von Schautafeln kann man in dem vor fünf Jahren eröffneten Haus die Geschichte der Popmusik des Landes entlangschreiten, die 1835 mit einer von Dichter Jónas Hallgrímsson auf eine beliebte Melodie getexteten Ode an Freundschaft und Stoizismus beginnt. In Schaukästen liegen Tourpässe und Memorabilia von den Sugarcubes, deren Sängerin Björk darüber hinaus eine ganze Wand gewidmet ist. Auch Hjálmar begegnet man: als Pappkartoninstallation. In kleinen Kammern kann man Gitarre spielen, Karaoke singen oder sein Handy einstöpseln und die private Playlist auf dem Schlagzeug begleiten.

Besonders stolz ist Young aber auf etwas anderes. „Uns war wichtig, dass man bei uns nicht nur über Musik lesen kann“, sagt er und führt zu einem DJ-Pult in der Haupthalle. Legt man eine der dort liegenden Schallplatten auf einen Plattenteller, erklingt nicht nur Musik durch den Kopfhörer, sondern erscheint auch eine an die Wand projizierte Bandgeschichte des jeweiligen Interpreten, durch die man sich mittels Drehen der Platte scrollen kann.

Kulturschaffende werden vom Staat gefördert

Den Einfluss der Amerikaner im Allgemeinen und den von Júlíusson im Besonderen auf die Entwicklung der isländischen Popmusik, streicht auch Young noch mal heraus. Warum der Inselstaat mit nicht mal 340 000 Einwohnern aber so vergleichsweise übermäßig viele erfolgreiche Bands hervorgebracht hat, darüber kann auch er nur mutmaßen. „Vielleicht spielt das Litamannalaun eine Rolle“, sagt er. Dabei handelt es sich um ein Art projektbezogenes Stipendium für Kulturschaffende. Wer ein Buch schreiben oder eine Platte aufnehmen will, kann sich bewerben und wird für den Schaffensprozess vom Staat alimentiert. 2019 bekamen 359 Künstler insgesamt 1600 Monatsgehälter von umgerechnet rund 2800 Euro gezahlt. 180 Monate gingen an Musiker, 190 an Komponisten.

Den Nutzen in exakten Zahlen bemessen kann keiner. Aber wenn man weiß, dass rund zehn Prozent der Touristen nicht wegen der Blauen Lagune, den Nordlichtern und den Geysiren kommen, dürfte das trotzdem gut investiertes Geld sein. Schon allein, weil die Bedeutung der anderen großen Wirtschaftszweige Fischfang und Aluminiumproduktion stetig zurückgeht.

Guðmundur Kristinn Jónsson jedenfalls scheint kein Problem damit zu haben, nicht nur als Musiker, sondern auch als inoffizieller Werbebotschafter seines Landes durch die Welt zu reisen. Im Februar 2020 will er sich wieder aufmachen, als Teil der Tourband seines Kumpels Ásgeir. Die Konzertreise soll sie auch nach Deutschland führen. Die Vorbereitungen dafür laufen schon – wenn man so will seit 15 bis 20 Millionen Jahren.

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