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Stefan Härtel (rechts) vs. Robin Krasniqi, 11.5.2019.

© imago images / Christian Schroedter

Interview mit Stefan Härtel: „Schatz, ich boxe ja ganz anders“

Leberhaken und Lippenbändchenriss: Stefan Härtel weiß, was richtig weh tut. Der Berliner Champion über Salzwasser in der Nase und schüchterne Siebtklässler.

Stefan Härtel, 31, ist Box-Europameister im Supermittelgewicht. Geboren in Lauchhammer, wuchs er in Berlin-Lichtenberg auf. Bis 2014 war Härtel Amateurboxer und trat bei den Olympischen Spielen 2012 an. In der Stadthalle Magdeburg erzielte er im Mai gegen Robin Krasniqi seinen 18. Sieg im 19. Kampf und den ersten Titelgewinn als Profi. Er gehört zum "Boxstall" von Uli Steinforth. Härtel, der als begabter Techniker gilt, lebt mit Frau und Tochter in Berlin.

Herr Härtel, Sie sind Europameister im Supermittelgewicht. Im Mai besiegten Sie Titelträger Robin Krasniqi in einem intensiven Kampf nach zwölf Runden. Wie war der Tag danach?

Meine Frau und ich haben Fenster bemustert. Wir bauen gerade in Berlin ein Haus.

Keine Schmerzen?

Ich? Nö. Nur die Hände eigentlich. Ich sah gut aus, Krasniqi sah aus wie Gulasch. Okay, ich hatte ein blaues Auge, das war mir ein bisschen unangenehm vor den Leuten von der Hausbaufirma.

Die werden sich nicht trauen, die falschen Fenster einzusetzen.

Werden wir sehen. Ich habe überhaupt kein Gewaltpotenzial. Im Ring liefere ich, was ich kann, aber sobald sich auf der Straße eine Schlägerei nähert, bin ich raus – wobei ich natürlich die Technik hätte.

Graciano „Rocky“ Rocchigiani hatte den Titelsong von „Spiel mir das Lied vom Tod“ als Einlaufmusik, Sie hören vor dem Kampf Justin Timberlakes „Say Something“. Haben Sie keinen Killerinstinkt?

Ich bin schon heiß genug, ich muss mich nicht noch heißer machen.

Krasniqi blutete aus zwei Cuts im Gesicht, Sie haben immer wieder draufgehauen.

Nicht bewusst. Es lässt sich nicht vermeiden. Ich dachte nur: Oh scheiße, hoffentlich brechen die jetzt nicht ab und machen nach vier Runden ein technisches Unentschieden draus. Dann wäre der Kampf wiederholt worden. Nochmal eine Vorbereitung für denselben Gegner, darauf hätte ich keine Lust gehabt.

Sie mussten den Kampf schon einmal aus gesundheitlichen Gründen verschieben. Was war da los?

Eine Woche vor dem Kampf, als ich gerade mit dem Gewicht unten war, habe ich von meiner bald zweijährigen Tochter was mitbekommen.

Um ein Haar hätte eine Kinderkrankheit dieses Match verhindert?

Ja, allein diese Schilder, die in der Kita hängen: Hand-Fuß-Mund und so. Trotzdem knutsche ich meine Tochter ab. Vor diesem Kampf auch wieder. In der Vorbereitung hatte ich Schnupfen und Mandeln. Da habe ich zu meiner Frau gesagt: Zwei Mal absagen geht nicht, dann höre ich auf mit Boxen. Ich bin 31, jeder Kampf kann mein letzter sein. Deshalb sollte man in den Ring gehen und Spaß haben.

Das findet auch Ihr Trainer, Stephan Kühne. In einer Ringpause sagte er zu Ihnen: „Komm Stefan, sei wach, hab’ Spaß.“ Wo bleibt die Leidenschaft?

Für viele Boxer hängen Existenzen an Sieg oder Niederlage, die müssen Geld verdienen, bei mir ist das anders. Diesen Druck habe ich nicht. Gleich bespreche mit ich meiner Dozentin das Thema für meine Master-Arbeit. Mit dem Lehramtsstudium habe ich ein gutes zweites Standbein.

Hat Ihnen schon mal an der Uni jemand gesagt, dass Sie für einen Lehramtsanwärter schnell reden?

Nö. Aber in Medienseminaren hieß es: „Sie sprechen zu schnell, und Ihren Humor könnte man als arrogant auslegen.“ Also doch, ja?

Was Härtel vom Frauenboxen hält

Stefan Härtel.
Stefan Härtel.

© Kai-Uwe Heinrich

Beim rituellen Wiegen vor dem Kampf haben Sie Krasniqi provoziert, indem Sie ihm seinen Gürtel weggenommen und gedroht haben, ihn in die „Boxer-Rente“ zu schicken. Mit welchen Argumenten wollen Sie künftig Schulhof-Rangeleien stoppen?

Diese Provokationen gehören zum Geschäft. Wenn ich als Lehrerpersönlichkeit für Sport und Geschichte vor denen stehe, werden die schon wissen, dass ich glaubwürdig bin.

Sie können sich jetzt ein historisches Ereignis aussuchen, zum dem Sie sich beamen können.

Natürlich wäre ich gerne im Publikum beim „Thrilla in Manila“ gewesen, Ali gegen Frazier, 1975. Und och, wie süß wäre das, einfach mal zu sehen, wie meine Eltern sich kennengelernt haben? Wenn die davon erzählen, steht Aussage gegen Aussage. Das Ende der DDR würde mich auch interessieren – als ich zur Schule ging, hatten wir das Thema nicht. Meine Eltern sagen immer, wie det weeßt du nicht, wer Wilhelm Pieck war?

Sie sind durch Ihren Vater, Trainer beim SV Lichtenberg 47, zum Boxen gekommen …

… leider!

Sie lachen. Wieso „leider“?

Zuerst war ich beim Judo, da war ich schlecht, außerdem tat es mir weh, barfuß über Parkett zu laufen. Danach habe ich Fußballtraining beim 1. FC Marzahn 94 gemacht – da war ein Schotterplatz, nicht gut für die Knie. Na gut, dachte ich, geh’ ich eben zum Papa. Der hat mich härter rangenommen als alle anderen. Immer, wenn er sich wegdrehte, hab’ ich die Schrittfolgen übersprungen. Ich dachte wirklich, er merkt’s nicht. Ich habe nur weitergemacht, um ihn nicht zu enttäuschen.

Welchen Trainingsmoment hassen Sie heute?

Ich war immer ein nerviger Sportler, der viel hinterfragt und Mist gebaut hat. Trotzdem ist Training keine Demokratie, und so habe ich getan, was meine Trainer wollten. Gut, Kraftausdauertraining ist nicht so meins, zum Beispiel unendlich viele Wiederholungen an der 20-Kilo-Bankdrückstange. Irgendwann werden die Arme müde und das ATP in den Muskeln lässt nach …

… ATP?

Adenosintriphosphat, der Energieträger der Zellen. Wollte ich mal einstreuen, um zu zeigen, dass ich nicht dämlich bin.

Erinnern Sie sich an das erste Mal Nasenbluten?

Von den ersten 40 Kämpfen blutete mir sicher in 35 die Nase. Ich wurde zwei Mal gelasert und drei Mal geätzt, nichts half. Mittlerweile nehme ich Salzwasser, zzzzzt in die Nase, das funktioniert.

Sie haben für einen Boxer ziemlich grazile Hände.

Dadurch, dass sie sehr lang sind, wirken die Finger dünn. Meine Hände sind verformt, hier, diese kann ich gar nicht richtig zur Faust ballen.

Das hat geknackt!

Total. Ich habe mal einen Film über Bruce Lee gesehen, der das auch gemacht hat.

Sie trainieren zurzeit die 7. und 8. Klasse des Schul- und Leistungszentrums im Sportforum Hohenschönhausen. Was machen Sie denn anders als Ihre Trainer?

Ich versuche, das abwechslungsreicher zu gestalten, Feedback einzufordern. Heutzutage ist man ja schon froh, wenn es ein paar junge Boxer gibt, die auf der Leistungsebene aktiv sein wollen. Es ist faszinierend, wenn ein kleiner, dicker, schüchterner Siebtklässler hier als selbstbewusster und sportlicher Zehntklässler wieder rausläuft.

Wenn Ihre Tochter Sie in ein paar Jahren bittet, Papa, trainier’ mich …

Vergiss es! Ich bete zu Gott, dass das nicht passiert. Das ist jetzt ein bisschen chauvimäßig: Ich finde es nicht ästhetisch, wenn Frauen sich auf den Kopf hauen. Aber ich werde es nicht verbieten.

Den Maßstab Schönheit legen Sie bei Männern auch nicht an. Sie sagen ja selbst, Krasniqi sah ziemlich mitgenommen aus.

Das ist vielleicht so ein Gladiatorending. Männer dürfen verprügelt aussehen. Was nicht heißt, dass Frauen im Boxen nichts leisten!

Sind Sie glücklich darüber, dass Sie als Europameister Ihren Vater jetzt stolz machen?

Ja, auf jeden Fall. Der Gürtel gehört ihm. Ich ziehe meinen Hut vor Papa.

Was ist schwieriger für Sie, zwölf Runden durchzuhalten oder die Geduld aufzubringen, in der Kita-Garderobe zu warten, bis Ihre Tochter sich die Hausschuhe selbst angezogen hat?

Meine Tochter wird nicht gehetzt. Nee, zwölf Runden boxen ist schwieriger, das konnte ich mir früher nie vorstellen. Ich weiß, wie ich das Tempo steigere, da gibt’s wenige, die das toppen können.

Teilen Sie sich Ihre Kräfte ein?

Das wäre Blödsinn. Egal, was du in den ersten Runden zurückgehalten hast – am Ende bist du eh leer. Da kann ich genauso gut von Anfang an loslegen. Nach zehn Sekunden im Kampf geht bei mir der Autopilot an.

Ihren ersten Meistertitel holten Sie mit 16, gegen Dominik Britsch …

… da musste ich von 66 auf 57 Kilo runter, um gegen ihn antreten zu können. Ich war so zitterig, dass ich eine Infusion bekam. 500 Milliliter, ein halbes Kilo wieder drauf. Ich habe in der Sauna mit Schwitzsachen, also einer Regenjacke, trainiert. In mein Tagebuch schrieb ich, wie sehr ich mich nach einem Joghurt sehne. Gefühltes Körperfett von 0,0.

Wie kann man in so einem Zustand kämpfen?

Letztendlich machen alle Boxer Gewicht und haben einen Substanzverlust. Trotzdem ging ich in der ersten Runde runter, bin richtig geflogen. Alles nebelig. Das Gute bei diesen Niederschlägen ist, dass man sie nicht merkt, man geht einfach schlafen. Ein Treffer am Kinn ist butterweich. Licht aus, Licht an. Ich stand auf, rannte erstmal ein bisschen weg. Danach war ich vollgepumpt mit Adrenalin, feuerte zurück und holte den Titel.

Überraschung: Die schlimmsten Schmerzen im Ring

Im Ring: Stefan Härtel.
Im Ring: Stefan Härtel.

© imago/Eibner

Was tut richtig weh?

Schlimm ist ein Körper-k.o. Wenn sich die Leber zusammenzieht – aua. Oder ein Aufwärtshaken, der die Nase hochzieht. Oder das Lippenbändchen reißt.

Der heftigste Schmerz bisher?

Ein umgeknickter Daumennagel.

Sie tragen Bandagen und gepolsterte Handschuhe.

Trotzdem. Du schlägst mit dem Daumen am Gesicht vorbei und bleibst nur mit dem Daumen hängen. Es fühlt sich zuerst an, als bliebe der Nagel stecken. Dann zwiebelt es, und wie. Einmal, noch als Amateur, komme ich während des Kampfes in die Ecke, der Trainer fragt: „Was ist los?“ – „Mein Nagel!“ – Und er: „Ist mir doch scheißegal!“ – „Warum fragen Sie denn dann?“

Das ist sicher nicht schön, aber harmlos. Schwere Folgen des Boxsports gibt es immer wieder, zuletzt 2016, als der Kasache Eddie Gutknecht nach einer Gehirnschwellung notoperiert wurde, im Koma lag und jetzt vermutlich bis ans Ende seines Lebens auf Pflege angewiesen ist.

Wirklich richtig schlimm und gruselig. Seitdem man früher mit Rosshaarhandschuhen gekämpft hat, hat sich materialtechnisch viel getan, und trotzdem gibt es so Fälle wie Eddie. Das hat meine Frau auch immer im Hinterkopf, wenn sie sagt: „Mensch Stefan, jetzt hör’ mal langsam auf mit Boxen.“

Wie reagieren Sie darauf?

„Schatz, ich boxe ja ganz anders. Mir passiert das nicht.“ Doch dann antwortet sie: „Aber du würdest doch nie aufgeben.“ Letztendlich stimmt’s. Man hat als Sportler ja Ehrgeiz. So lange ich stehen kann, würde ich nicht vom Trainer fordern, dass er das Handtuch wirft. Man macht so lange weiter, bis der Körper einem den Dienst versagt.

Sie gehen einmal im Jahr vorsorglich zum Kopf-MRT. Ist alles in Ordnung?

Geht. Durch den Brummton schlafe ich ein.

Träumen Sie eigentlich von Kämpfen?

Manchmal sehe ich im Traum eine Faust auf mich zukommen und zucke. Ich schlafe aber sehr fest. Wenn ich meiner Frau nachts versehentlich einen Ellenbogen ins Gesicht ramme und sie zurückhaut, merke ich das nicht. Ich bin abgehärtet.

Arthur Abraham hat 2006 in Wetzlar acht Runden mit einem doppelten Kieferbruch durchgehalten und gewonnen. Hätte der Kampf abgebrochen werden müssen?

Das war Arthurs Eintrittskarte zu den Millionen. Es wäre richtig gewesen, wenn der Ringarzt sich das angeguckt hätte. Der Trainer sieht, dass der Gegner auch abbaut und rechnet sich aus, was zu schaffen ist. Gleichzeitig hat der Ringarzt Sorgfaltspflicht, ist aber vom Promoter eingeladen. Und die Zuschauer möchten ein Spektakel. Es gibt wenige, die feines Boxen sehen wollen, das ist mir als Techniker etwas zum Verhängnis geworden.

Joyce Carol Oates schrieb in ihrem Essay „On Boxing“: „Ich muss Boxen nicht als Sport rechtfertigen, weil ich es nie als Sport angesehen habe, weil es das Leben selbst ist, und nicht nur Sport.“

Stimmt teilweise. Boxen ist mein Leben, ja, und das Leben kann manchmal ein Kampf sein, aber an erster Stelle kommt trotzdem die Familie.

Wann steigen Sie das nächste Mal in den Ring?

Weiß ich noch nicht. Krasniqi war ein großer Name mit 200 000 Instagram-Followern, in Albanien ist er ein Volksheld. Ich kann halt nicht mehr gegen den Taxifahrer aus Georgien kämpfen, dann würde ich mich unglaubwürdig machen.

Ihr Pflichtherausforderer Jürgen Brähmer hat den Kampf gegen Sie jetzt ersteigert.

Ja, und Jürgen ist besser als Krasniqi. Das wird ein schwerer Kampf und ein schönes Duell für Boxdeutschland. Da sollte sich das finanziell lohnen.

Wünschen Sie sich manchmal, Sie hätten Ihre Profi-Karriere vor 25 Jahren begonnen?

Dann wäre ich jetzt reich. Henry Maske, Sven Ottke und die anderen haben damals ein Schweinegeld gemacht. Heute verdient man Summen, für die hätten sich diese Boxer nicht die Schuhe angezogen. Für den Kampf gegen Krasniqi habe ich keine 30 000 bekommen – dafür halte ich meinen Kopf hin. Meine Frau verdient auch keinen Riesenbatzen, und der Kredit für’s Haus läuft schon.

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