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Der ehemalige Wallstreetbanker und Autor Nassim Nicholas Taleb plädiert für mehr Verantwortung in der Politik.

© Doris Spiekermann-Klaas

Interview mit Nassim Nicholas Taleb: „Als ich kein Geld hatte, war ich noch schlimmer“

Niemand hält mehr seinen Kopf hin, findet Nassim Nicholas Taleb. Der Essayist über Kriege, die in klimatisierten Büros entschieden werden, und das Flanieren in Berlin.

Herr Taleb, wann sind Sie zuletzt ein Risiko eingegangen?

Ich bin nach einer Pause seit einiger Zeit zurück auf Twitter und möchte mit fast jedem Post ein Risiko eingehen. Ansonsten hätte ich das Gefühl, nur Blödsinn zu erzählen.

Sie teilen jedenfalls mit großem Selbstbewusstsein aus. Saudi-Arabien nannten Sie lang vor der Khashoggi-Affäre nur „Saudi Barbaria“. Dem Ökonom Paul Krugman werfen Sie vor, noch nie mit etwas richtig gelegen zu haben. Und über den Journalisten Thomas Friedman schreiben Sie, Ihnen sei übel geworden, als Sie ihm begegneten.

Friedman war ein wichtiger Unterstützer des Irakkrieges, mit seinen Kolumnen in der „New York Times“ hat er zu dessen Ausbruch beigetragen. Trotz des militärischen Desasters, das folgte, schreibt er bis heute weiter, als wäre nichts passiert. Er hat nie für seinen Irrtum bezahlt. Wie so viele Leute im Journalismus, in der akademischen Welt und der Politik.

Seit Ihrem Weltbestseller „Der Schwarze Schwan“ von 2007, in dem es um extrem unwahrscheinliche Ereignisse geht, haben Sie mehrere philosophische Bücher veröffentlicht. Zentrale These des neuesten: In der modernen Welt halten Mächtige ihren Kopf nicht mehr für riskante Entscheidungen hin.

Für die längste Zeit der zivilisierten Geschichte galt, dass wer Krieg wollte, als Erstes in die Schlacht zog. Von Cäsar bis George Washington. Heutzutage gibt es Staatsführer, für die Krieg ein Videospiel ist, die keine unmittelbare, physische Gefahr mehr eingehen. Sie haben kein „skin in the game“, wie ich das nenne. Sie riskieren nicht ihre eigene Haut.

Wäre die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht die Lösung?

Das ist gar nicht nötig. Wenn jeder, der an der Entscheidung über Krieg und Frieden beteiligt ist, selbst kämpfen müsste, einen Sohn oder eine Tochter in der Armee hätte, wäre das Problem schon gelöst. Thomas Friedman hätte in den Irak ziehen sollen, statt Hunderttausende andere Menschen für seine Ideen sterben zu lassen. In Libyen hat sich die Sache wiederholt. Da gab es eine Intervention, um einen Diktator zu entfernen, und nun haben wir ein Land im Chaos, in dem es wieder Sklavenmärkte gibt – während die Interventionisten in ihren klimatisierten Büros sitzen.

Vor Ihrer Karriere als Autor waren Sie mehr als 20 Jahre Trader an der Wall Street. Wie hat das Ihre Philosophie beeinflusst?

Für mein Denken, meine Intuition gibt es zwei Quellen: den Börsenhandel und die Erfahrung des libanesischen Bürgerkriegs, den ich als Jugendlicher erlebt habe. Was mir an der Börse gefällt, ist, dass es keine Rolle spielt, was andere über dich denken. Du willst im Gegenteil sogar eher, dass dich die Leute hassen. Dein Erfolg basiert auf der Wirklichkeit, nicht auf der Bewertung durch die Kollegen.

Sie haben die Finanzkrise von 2008 nicht nur vorhergesagt, Sie haben auch an ihr verdient.

Wenn jemand ein persönliches Risiko eingeht und reich wird, stellt das in meinen Augen kein moralisches Problem dar. Etwas anderes ist es, wenn man zunächst mit risikoreichen Geschäften viel einstreicht und die negativen Folgen nach einem Crash an die Allgemeinheit abtritt, wie es nach der Krise 2008 mit den Banken geschehen ist.

Sie meinen die Rettungsaktionen, die Bail-outs, bei denen die Staaten den Banken zur Seite sprangen ...

... mit dem Geld der Steuerzahler, die nie auf Gewinne aus den riskanten Geschäften hoffen konnten. Und das ist eben nicht nur ethisch problematisch. Ein System kann nicht lernen, wenn es nach Fehlern keine Konsequenzen gibt.

Einige Banker mussten doch zumindest Geldstrafen zahlen. Und mittlerweile gibt es Gesetze, die verhindern sollen, dass erneut der Steuerzahler aufkommt. Sehen Sie positive Veränderungen?

Es kann wieder Bail-outs geben. Das Risiko ist an die Staaten verschoben worden, wo sich die Schulden türmen. Unter bestimmten Umständen kann da eine gefährliche Spirale in Gang kommen.

"Vielfalt geht verloren, das ist kein gesundes System"

Nach der Finanzkrise 2008 läuft das Geschäft an der New Yorker Wall Street wieder.
Nach der Finanzkrise 2008 läuft das Geschäft an der New Yorker Wall Street wieder.

© Sven Hoppe/dpa

Was ist die Ursache für den zunehmenden Mangel an Risikohaftung, den Sie beschreiben?

Wenn Sie das Deutschland von heute mit dem Bismarcks vergleichen, dann ist nicht nur das Bruttoinlandsprodukt um ein Vielfaches gestiegen, sondern auch die Staatsquote ...

... das Verhältnis der Staatsausgaben zum Bruttoinlandsprodukt ...

... und das ist eine allgemeine Entwicklung. Sie zieht alle möglichen Leute an, die davon auf die eine oder andere Art profitieren wollen. Besonders nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich eine Funktionärsklasse herausgebildet. In den USA sind die Top-Verdiener heute nicht die Unternehmer, die ihre Haut wirklich riskieren, sondern Manager. Und natürlich denke ich an die staatliche Bürokratie. Die Vereinten Nationen mit all ihren Unterorganisationen sind ein wunderbares Beispiel. Die wachen dort vermutlich morgens auf und erfinden erstmal genug Probleme, damit sie als unverzichtbar gelten und ihr Budget fürs nächste Jahr gesichert ist.

Einer Ihrer Kritikpunkte: Bürokraten entscheiden über die Einstellung anderer Bürokraten, Wissenschaftler begutachten, was Kollegen schreiben.

Viele Leute mögen mit edlen Zielen in die akademische Welt eintreten, aber im Endeffekt schreiben sie so, dass sie ihre Texte in den wichtigen Fachzeitschriften unterbringen können. Dafür müssen sie ihren Freunden gefallen. Vielfalt geht verloren, das ist kein gesundes System. Ein Freund, der in der Gastronomie tätig ist, hat mir von Preisen erzählt, die Restaurants an andere Restaurants verliehen: Die Ausgezeichneten gingen später für gewöhnlich pleite. Als Restaurant sollten sie sich eben an ihren Kunden orientieren, das hat auch etwas mit „skin in the game“ zu tun.

Da Sie Bismarck erwähnten: Es lebt sich heute bedeutend angenehmer als zu dessen Zeiten.

Die Frage ist, ob dank oder trotz des Staats? Im Übrigen bin ich nicht prinzipiell gegen Regierung und Verwaltung. Sondern bloß für eine Verkleinerung. Wichtig ist, über welche Ebene wir reden. Sie können ein Libertärer sein, was den US-Bundesstaat angeht, und gleichzeitig in Ihrer Gemeinde ein Sozialist, das passt ohne Weiteres zusammen. Meine Idee ist, dass man so viele Entscheidungen wie möglich auf eine niedrigere Ebene bringt, auf der die Leute wirklich verantwortlich sind. Die EU ist mit dieser Idee angetreten, leider hat sie sich mit der Bürokratie in Brüssel in die entgegengesetzte Richtung entwickelt.

Welches Land wäre ein Vorbild?

Die Schweiz, mit weitem Abstand. Ich bin ein Lokalist. Schauen Sie sich an, wie sich Deutschland verändert hat, wann immer es zu zentralistisch regiert wurde. Dann kamen der Militarismus und die Kriege. Wenn man Identitäten natürlich wachsen lässt, fühlen sich die Leute zum Beispiel eher als Bayern – und als solche womöglich den Österreichern näher als den Berlinern.

Sie haben ein ganz eigenes Konzept entwickelt, um in einer Welt mit Börsencrashs und politischen Irrtümern zu bestehen und sogar von Unordnung zu profitieren. Zu welcher Geldanlage raten Sie?

Die Mitte ist nicht golden, sie ist tatsächlich sehr riskant. Ich empfehle eine Kombination aus sehr sicheren und extrem risikoreichen Anlagen. So kommen Sie auf jeden Fall durch.

Herr Taleb, wie steht es mit Ihrem eigenen „Skin in the game“? Die Börse hat Sie reich gemacht. Sie können sich natürlich mit allen möglichen Leuten und Institutionen anlegen, Sie riskieren ja wenig dabei!

Ich versichere Ihnen, als ich kein Geld hatte, war ich noch schlimmer. Es ist auch ein Irrtum, zu glauben, Reiche seien automatisch freier. Ich habe über die Jahre viele von denen kennengelernt; Sie sehen die und vergleichen deren Situation vermutlich mit der von armen Menschen, aber für die selbst sind andere Reiche der Maßstab. Die haben Angst um ihr Geld und verlieren eher an Sicherheit. Mich hat Wohlstand im Sinne von Kaviar oder teurem Wein nie interessiert. Ich wollte intellektuell frei sein, und ich versuche schon, dank meinem „Fuck you Money“ ...

... so nennt man einen Geldbetrag, dank dessen man sich keine finanziellen Sorgen mehr machen muss ...

... Dinge zu propagieren, wie es andere nicht tun könnten. Das ist eine Frage der Ehre. Ja, darum geht es letztlich: um Ehre, Integrität. Einmal zeigte eine Journalistin diese Bilder, auf denen angeblich syrische Kinder zu sehen waren, umgebracht von Assad. Nun stamme ich aus einer christlichen Familie im Libanon, insofern bin ich voreingenommen. Ich sorge mich um die Minderheiten in Syrien. Da ich aus der Region komme, habe ich auch gleich erkannt, dass es sich auf den Bildern nicht um Syrer handelte.

"Mit Kindern lässt sich gut manipulieren"

Kinder weinen in einem Fahrzeug vom Roten Kreuz in Syrien bei der Evakuierung aus der Rebellen-Region um Ost-Ghouta.
Kinder weinen in einem Fahrzeug vom Roten Kreuz in Syrien bei der Evakuierung aus der Rebellen-Region um Ost-Ghouta.

© Samer Bouidani/dpa

Sie haben immer wieder die westliche Unterstützung für sunnitische Rebellengruppen kritisiert, die Sie als gefährliche Extremisten beschreiben.

Tatsächlich stellte sich später heraus, dass es Fotos aus Libyen waren, von 2010. Natürlich gab es sofort empörte Nachfragen, wie ich es wagen könnte, die Echtheit der Aufnahmen in Zweifel zu ziehen. In dem Moment, wo Kinder ins Spiel kommen, ist es mit jeder Form von Skepsis vorbei. Die Leute verhalten sich so, wie Trump es tat, nach den Bildern, die angeblich die Vergasung syrischer Kinder zeigten: Ivanka hat weinen müssen, also lass’ uns Syrien in Schutt und Asche bomben! Argumentiert man dagegen, hat man verloren, bevor die Debatte überhaupt beginnt. Denn alles, was man sagt, lässt einen wie ein Arschloch aussehen. Genau so ist es ja auch gewollt.

Der Einsatz von Giftgas, zumal gegen Zivilisten, ist ein abscheuliches Verbrechen.

Natürlich. Umso genauer muss man hinschauen, um sicher zu wissen, was passiert ist. Gerade weil sich mit Kindern so gut manipulieren lässt. Wie damals 1990, als irakische Soldaten bei der Invasion Kuwaits angeblich Frühgeborene aus den Brutkästen gerissen hatten. Das war, wie man später erfuhr, die Erfindung einer PR-Agentur. Ich habe diese Propagandatechnik, bei der Kinder benutzt werden, Pedophrasty getauft.

Wofür braucht es diesen hochtrabenden Begriff?

Weil man, wenn man einer bestimmten Linie nicht folgt, Labels angeheftet bekommt. Man ist dann zum Beispiel Antidemokrat, Putinist oder unterstützt den Kindermörder Assad. Ist man schwach, können einen diese Wörter in ernsthafte Schwierigkeiten bringen. Pedophrasty ist ein Konter. Mir haben schon Leute erzählt, dass sie ihn erfolgreich als Argument verwendet haben.

Den Libanon ließen Sie in jungen Jahren hinter sich, weil Sie der dortigen Kultur, etwa dem zur Schau gestellten Reichtum, wenig abgewinnen konnten. Wie viel verbindet Sie noch mit der Gegend?

Ich genieße es nicht, dort zu sein. Aber ich fühle mich verpflichtet. Meine Mutter lebt noch da, ich besuche mein Heimatdorf etwa alle fünf Wochen, gehe zu Beerdigungen. In meinem Haus sind syrische Flüchtlinge untergekommen, eine sechsköpfige Familie. Ich bin im Land weder politisch noch ökonomisch vernetzt. Es wäre mir allerdings ein Anliegen, dass sich der Libanon so weit wie möglich von der arabischen Welt entfernt. Die enge Verbindung zu ihr hat sich als Katastrophe erwiesen. Wir haben kulturell, teils auch genetisch mehr mit Maltesern oder Armeniern gemein.

Obwohl die Wurzeln Ihrer Familie in der hellenistischen Kultur liegen, bewundern Sie vor allem die alten Römer. Warum?

Sie waren sehr praxisorientiert, hielten nichts von großen, aufgeblasenen Theorien und vor allem nichts von leeren Worten. Der Besuch am Pont du Gard, einem Aquädukt im Süden Frankreichs, hat mich einmal sehr beeindruckt, weil ich dort verstand, wie überlegen die römische Ingenieurskunst war und ist. Ein Wunder der Architektur!

Statt E-Books nehmen Sie auch lieber schwere Bücher mit auf Reisen. Sind Sie Traditionalist?

Ich mag keine Moden. Aber ich habe ein E-Book und die ganze Bibliothek des US-Kongresses da drin. Es macht halt keinen Spaß, mit dem Ding zu lesen. Es ist wie Essen von einem Pappteller. Gerade habe ich jedoch nur drei, vier Bücher dabei: eine Geschichte der Jesuiten, eines über Byzanz, einen Roman von Frédéric Dard, dem besten französischen Schriftsteller überhaupt ...

Sie bezeichnen sich selbst als Flaneur. Geht es da um Ihre vielfältigen Interessen, oder spazieren Sie tatsächlich gern durch die Gegend?

Ich meine das physisch. Es müssen allerdings ein paar Bedingungen erfüllt sein. Flanieren funktioniert nur in wirklich großen Städten wie Paris oder New York, sonst langweilt man sich schnell. Abends kann man vielleicht ein paar Freunde zum Essen treffen, der Rest des Tages sollte komplett frei sein. Ein einzelner Termin um 14 Uhr kann alles ruinieren.

Eignet sich Berlin zum Flanieren?

Sehr sogar. Man spürt sofort die reiche Textur dieser Stadt. Ich war schon sechs-, sieben Mal hier und habe zum Beispiel, obwohl ich mich eigentlich nach Kebab-Imbissen umgesehen habe, den hervorragenden Berliner Kaffee entdeckt. Auf solche Zufälle kommt es beim Flanieren an. Gestern war ich in Düsseldorf, hatte dort auch viel Zeit allein, doch ich habe schnell begriffen, dass ich eigentlich lieber in Berlin wäre.

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