zum Hauptinhalt
Der Cellostar Gautier Capuçon tritt heute Abend mit seinem aktuellen Album „Intuition“ im Berliner Konzerthaus auf.

© Fabien Monthubert/Erato Warner Classics

Interview mit Gautier Capuçon: „Dvořák mit kalten Händen ist Mord“

Ein Konzert zu geben, ist wie ein 200-Meter-Lauf, findet Gautier Capuçon. Der Cellist über Zerrungen in den Fingern, Joggen gegen Jetlag und seinen Burnout.

Herr Capuçon, das Cello wurde zum Instrument des Jahres 2018 erklärt. Ist es etwa eine bedrohte Art?

Im Gegenteil! Bei uns in Frankreich ist es gerade unter jungen Leuten sehr beliebt.

Sie selbst haben sich mit viereinhalb ins Cello verliebt. Nachdem Sie es vorher mit der Geige probiert hatten, die Sie ebenso innig hassten. Wie konnten Sie sich denn in dem Alter so sicher sein?

Für mich war das dermaßen klar – als wär’s in Stein geschrieben. Hier, ich kann Ihnen ein Bild zeigen, das mein Vater vor ein paar Tagen entdeckt hat: Das war mein erstes Cello! Ich bin da wahrscheinlich fünf Jahre alt, man sieht, dass ich keine Ahnung habe, wie man es spielt, aber ich wusste einfach, dass das Instrument zu mir gehört. Das Cello hat etwas sehr Geerdetes, im wahrsten Sinne des Wortes, es steht ja mit dem Stachel auf dem Boden. Es kommt dem menschlichen Körper am nächsten, du umarmst es regelrecht. Für ein Kind hat das was Natürliches, Spielerisches.

Und dann erklingt der erste Ton …

Es hat einen warmen Klang, ähnlich einer Stimme. Das Cello ist dafür gemacht, zu singen.

Ihre Eltern sind keine Musiker, Ihr Vater hat beim Zoll gearbeitet, Ihre Mutter war Hausfrau. Wie kamen sie auf die Idee, Ihnen das bauchige Instrument in den Arm zu drücken?

Sie stammten aus einem kleinen Ort in den Bergen von Savoyen. Dort gab es, das gibt es nach wie vor, ein Musikfestival. Zwei, drei Wochen im Sommer, damals auch im Winter noch eins, jeden Abend ein Konzert, und zwar ohne Eintritt. Meine Eltern sind da dauernd hin, so lernten sie die Musik lieben. Meine Schwester, die zehn Jahre älter ist als ich, fing dann an, Klavier zu spielen, und mein Bruder …

… Renaud, ein berühmter Violinist, mit dem Sie auch viele Konzerte zusammen gegeben haben …

… die Geige. Als ich auf die Welt kam, war schon immer Musik zu Hause.

Aber Sie haben sich das Spielen nicht selbst beigebracht?

Ich hatte einen fantastischen Lehrer! Meine Erinnerungen an die Kindheit, das ist meine Familie, meine Großeltern, das Skifahren – und mein Cellolehrer. Er hat nicht nur sein Instrument, sondern auch Kinder geliebt und wusste, wie man ihnen diese Leidenschaft vermittelt. Die ganze Woche habe ich mich auf die Stunde gefreut, ich konnte es gar nicht abwarten. Weil es so einen Spaß gemacht hat. Er hat immer gesagt: Musik muss schwingen, wie der Swing beim Jazz. Musik ist lebendig!

Bei einem Auftritt in Berlin erzählten Sie kürzlich, dass Sie auf Fotos aus Ihrer Kindheit meist lächeln.

Ich lächele einfach gern, bis heute. Aber ja, das Cello bedeutete Freude. Es ging nicht ums Lernen, es war nichts, was ich tun musste. Das ist enorm wichtig, wenn du als Kind ein Instrument zu spielen beginnst. Das sage ich auch meinen Töchtern. Als Musiker möchte ich ihnen die Chance geben, diese Sprache zu lernen, es ist ja die einzige, die wahrscheinlich jeder versteht.

Ihre Eltern haben Sie nie gedrängt?

Nein. Die haben nicht gesagt: Du musst üben! Aber sie haben den Raum geschaffen, dass ich spielen konnte. Im Sommer habe ich Musik-Camps besucht, alles wurde um die Musik herum organisiert. Seit ich 12, 13 bin, habe ich extrem viel Cello geübt. Acht Stunden am Tag.

Das ist für Jugendliche doch ein verdammt schwieriges Alter.

Wahrscheinlich. Andererseits ist es genau dieser Zeitraum, von 12, 13 bis 20, wo du viel üben musst. Weil du in dieser Zeit alle Grundlagen schaffst, dir die Technik, das Repertoire erarbeitest. Heute habe ich gar nicht die Zeit, acht Stunden zu üben.

Sie waren nie genervt oder neidisch auf Ihre Klassenkameraden, die einfach rumhängen konnten?

Sicher gab es Tage, wo ich nach drei Stunden keine Lust hatte. Aber es war und ist meine Passion.

Trotzdem hatten Sie vor vier Jahren einen Burnout.

Ich bin ein bisschen vorsichtig geworden mit der Bezeichnung, andere haben mich darauf aufmerksam gemacht, dass Burnout ein Oberbegriff für alles Mögliche ist. Manche brauchen Jahre, um sich davon zu erholen. Aber ich habe es so erlebt. Das war nach der Geburt meiner zweiten Tochter. Wenn ich daheim bin, bin ich wirklich hundertprozentig Vater. Sie war dreieinhalb Monate und hat ganz schlecht geschlafen, wie das halt so ist bei Kids. Jede Nacht bin ich vier, fünf Mal aufgestanden. Und als ich dann auf Tour ging, war mein Körper einfach – tot. Von einer extremen Müdigkeit erfüllt. Wenn zu dem Nichtschlafen die Reisen dazukommen, der Jetlag, die vielen Konzerte ...

"Wir Musiker verstehen uns nicht als Sportler – ein Fehler"

Sein erstes Cello. Schon als kleiner Junge wusste Capuçon, dass das Instrument zu ihm gehört.
Sein erstes Cello. Schon als kleiner Junge wusste Capuçon, dass das Instrument zu ihm gehört.

© privat

Welche Konsequenzen haben Sie daraus gezogen?

Ich habe meine Grenzen kennengelernt und begriffen, dass Schlaf eines der wichtigsten Dinge überhaupt ist. Und ich weiß inzwischen, dass Sport mir psychisch hilft.

Welcher?

Ich gehe joggen. Heute Nachmittag fliege ich nach Hongkong für ein Konzert, und das erste, was ich tun werde nach der Landung, ist: rennen. Um den Jetlag zu vertreiben. Außerdem habe ich damals angefangen zu meditieren. Eine echte Entdeckung. Auf gewisse Weise bin ich glücklich, dass ich das erlebt habe. Es hat mich stärker gemacht.

Haben Sie eine Therapie begonnen?

Nein. Ich habe viele Bücher über Burnout gelesen. Eine Krankheit, die vor 50 Jahren niemand kannte. Wir führen verrückte Leben, alles geht so schnell, wir nehmen uns keine Zeit. Das ist etwas, was ich gelernt habe – selbst wenn ich nur fünf Minuten habe, etwa mit einem geliebten Menschen: da zu sein und nicht in Gedanken schon wieder bei der nächsten Sache. Das ändert schon eine Menge.

Und was treiben Sie so in fünf Minuten?

Jazz hören vielleicht. Oder gar nichts.

Sie geben immer noch 125 Konzerte im Jahr, verbringen mehr Zeit mit Ihrem Cello als mit Ihrer Familie.

Ich versuche, mehr Raum zu schaffen für sie. Das Problem: Unsere Termine werden ja zwei Jahre im Voraus gemacht. Bei Kindern ist das eine gewaltige Zeitspanne. Aber ich nehme mir immer mehr Ferien. Doch danach geht man wieder auf Tour, reist nach Asien, Amerika, der Kontrast ist hart: zwei Wochen ganz intensiv – und plötzlich bist du weg. Das ist für uns schon schwer, für Kinder noch viel mehr.

Wie halten Sie unterwegs Kontakt?

Wir skypen viel, telefonieren. Manchmal essen wir sogar zusammen zu Mittag oder zu Abend, via Laptop. Moderne Zeiten.

Und dann stehen Sie auf und geben Ihr Konzert?

Bloß nicht! Wie Sportler müssen wir die Muskeln aufwärmen. Manche machen Fingerübungen, ich spiele erst einmal langsam. Aber wenn du anfängst, ein Dvořák-Konzert, das sehr lang und physisch extrem anspruchsvoll ist, mit kalten Händen zu spielen – das ist für die Muskeln Mord. Du ziehst dir Zerrungen zu wie jemand, der an einem 200-Meter-Lauf teilnimmt, ohne sich vorher aufgewärmt zu haben. Ein Konzert ist wie ein Wettkampf, der körperliche Einsatz gewaltig. Wir Musiker verstehen uns vor allem als Künstler, nicht als Sportler. Das ist ein Fehler. Hände, Arme, Schultern, das sollte man alles trainieren.

Und das tun Sie brav?
Naja. Ich will seit Jahren Yoga machen, weiß auch, dass ich es tun werde – und sollte. Da trainiert man die Bewegungen des ganzen Körpers. Aber ich hatte noch nicht die Zeit.

Seit vier Jahren unterrichten Sie auch. Was raten Sie Ihren Schülern?

In meinem Programm lade ich jedes Jahr einen bekannten Handchirurgen ein, der selber Cello spielt. Er erklärt ihnen, was unter der Haut ihrer Hand sitzt, dass sie auf die Signale ihres Körpers hören sollten und sofort stoppen, wenn sie merken, dass sie müde werden. Bloß nichts erzwingen.

Verraten Sie uns seine wichtigsten Rezepte.

Vor allem: viel Wasser trinken! Sportler machen das automatisch, um nicht zu dehydrieren. Nie ein Stück 100 Mal hintereinander spielen. Das ist eine Versuchung, wenn eine Passage besonders schwierig ist. Aber dann beansprucht man immer wieder dieselben Muskeln. Man muss variieren. Und schließlich die richtige Sitzposition finden, die sich natürlich anfühlt, nicht erzwungen.

Bei Ihnen sieht es aus, als würde das Cello auf Ihnen liegen.

Das habe ich zufällig entdeckt, als ich jung war, acht Stunden geübt habe. Um meinen Rücken zu entlasten, habe ich mich zurückgelehnt und dafür den Stachel länger gemacht. Das Cello wird ja zum Teil deines Körpers, zu dessen Verlängerung. Der Spieler plus das Instrument, eins und eins – macht eins. Die beiden müssen zu einer Stimme werden.

"Mein Cello sitzt im Flugzeug immer neben mir"

Der französische Cellist gibt auf der ganzen Welt Konzerte, hier 2015 beim George Enescu Festival in Bukarest.
Der französische Cellist gibt auf der ganzen Welt Konzerte, hier 2015 beim George Enescu Festival in Bukarest.

© pa/Robert Ghement

Aber Sie sind der Packesel, schleppen Ihr Instrument auch mit sich herum. Wie viel Gewicht zerrt da an Ihren Schultern?

Die Cellokoffer sind heute viel leichter als noch vor 20 Jahren. Aber trotzdem mit allem Drum und Dran, Instrument, Bogen, Ersatzsaiten, Noten, sind es so acht, neun Kilo.

Ein kostbares Instrument, von 1701. Befindet es sich wie bei vielen Musikern im Besitz einer Bank?

Das Cello gehörte einer Privatperson, die es mir geliehen hat, aber seit einem Jahr ist’s meins, ich hab’s gekauft. Das bedeutet ein unglaubliches Gefühl von Freiheit: zu wissen, dass dir niemand das Instrument wegnehmen kann. Für junge Musiker ist es fast unmöglich, ihr eigenes zu besitzen.

Was hat es gekostet?

Ein paar Millionen. Den genauen Preis verrate ich nicht, das ist eine Sache der Diskretion.

Eine Kollegin von Ihnen meinte, wenn sie im Flugzeug sitzt, hätte sie mehr Angst um ihr Cello als um sich selbst. Kennen Sie das Gefühl?

Im Flugzeug kann doch praktisch nichts passieren. Man muss nur ein zweites Ticket fürs Cello kaufen, darf es nicht als Gepäck aufgeben. Es sitzt immer neben mir.

Und was sagen die anderen Passagiere dazu?

Sie amüsieren sich oder bitten mich, ein Foto vom Cello im Flugzeugsitz zu schießen. Einige werden auch wütend, weil sie glauben, dass ich einen Platz in Beschlag nehme, ohne dafür bezahlt zu haben. Auf jeden Fall, das Schlimmste, was dem Cello passieren könnte, wäre, dass das Flugzeug abstürzt. Aber dann bist du selbst nicht mehr da, um zu gucken, was ihm passiert ist. Natürlich müssen wir sehr vorsichtig sein. Wir tragen die Verantwortung für ein Kunstwerk, das durch Jahrhunderte gegangen ist, und auf dem hoffentlich in 200, 300 Jahren noch jemand spielt.

Jetzt unterrichten Sie, in der Pariser Fondation Louis Vuitton, die nächste Generation in Meisterkursen. Warum halsen Sie sich das auch noch auf?

Ich habe dort ein Programm entwickelt, wo wir nicht nur übers Cello reden, sondern das ganze Drumherum, übers Management, Plattenfirmen, Reisen, Stress, Nervosität, Druck. Ich möchte den Schülern helfen, freier zu werden. Beim Unterrichten lerne ich selber viel, allein dadurch, dass ich so viel erkläre. Ich bin schneller geworden, vor allem beim Analysieren eines Stücks.

Sie sagten mal, Unterrichten sei wie eine Therapie.

Du musst wie ein Arzt oder Therapeut den richtigen Schlüssel finden zu den Schülern, je nach Temperament, unterschiedliche Wege der Kommunikation, das geht nicht nur mit Worten. Manchmal singe ich ein Stück vor oder lasse mir eine Geschichte einfallen.

Ein Beispiel, bitte.

Einmal habe ich versucht, einem Schüler eine Passage zu erklären: Du spielst zu direkt, zu abrupt, nicht sinnlich genug. Diese beiden Noten müssen zu der nächsten führen. Er hat’s nicht hingekriegt. Da habe ich zu ihm gesagt, das ist so, als würdest du den Arm deiner Freundin berühren und bewegst dich da immer weiter. Plötzlich sah ich es in seinem Gesicht, seinen Augen: Er hat’s kapiert! Dann hat er die Passage gespielt, und es war das Schönste, was er je gespielt hat.

Sie haben gerade eine autobiografische CD herausgebracht, „Intuition“, mit einer sehr persönlichen Auswahl von Stücken. Für die Fotos und das Video dazu haben Sie den Konzertsaal verlassen und sind in die Berge, in den Tiefschnee zum Spielen gegangen. Was hat Sie denn da geritten?

Ich bin mit der Natur sehr verbunden. Die Idee hat sich in Gesprächen mit Freunden ergeben, einem Hubschrauberpiloten und einem Filmemacher. Also sind wir, ein Team von Freunden, auf 3600 Meter hoch, bei minus 15 Grad. Eine Tänzerin hat zu meinem „Schwan“ getanzt. Wenn ich das Stück jetzt spiele und meine Augen schließe, habe ich das Gefühl, wieder dort auf dem Gipfel zu sein.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Was mögen Sie so an den Bergen?

Für mich ist das meine ganze Kindheit, meine Jugend. Meine Geschichte! Ich wurde in den Bergen geboren, in Savoyen, habe mit dem Skifahren zur selben Zeit begonnen wie mit dem Cellospielen. Das ist für mich, wie über die Straße zu gehen, so selbstverständlich. Natürlich ist es gefährlicher, als im Sessel zu sitzen, vor allem, wenn die Piste voll mit Urlaubern ist. Aber ich kann ohne nicht leben.

Zur Startseite