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„Berlin fasziniert mich nach wie vor, die kulturelle Energie ist groß“, sagt Bestsellerautorin Elif Shafak.

© Olivier Hess

Interview mit Elif Shafak: „Istanbul ist eine weibliche Stadt“

In ihrer Heimat wird die türkische Autorin angefeindet. Elif Shafak über ihre Hochzeit in Berlin, die AKP und die Schönheit osmanischer Wörterbücher.

Frau Shafak, am Sonntag wird in Istanbul der Bürgermeister gewählt. Der erste Wahlgang im März wurde annulliert. Beobachter sagen, weil Erdogan seinen Kandidaten nicht durchboxen konnte. Ein schwarzer Tag für die Türkei?

Ich bin sehr traurig darüber. Die Annullierung der Wahlen halte ich für ungesetzlich, undemokratisch und unfair. Ich glaube, dass Künstler und Schriftsteller sich zu Wort melden müssen. Wir können nicht schweigen. Doch sobald man seine Stimme gegen die Ungerechtigkeit erhebt, gilt man in der Türkei bei den regierungsnahen Zeitungen als „Verräter“ und wird mit hässlichsten Vorwürfen konfrontiert.

Die Gesellschaft ist tief gespalten.

Wir brauchen eine friedlich-demokratische politische Sprache. Die AKP-Regierung verwendet jedoch seit langer Zeit eine spaltende Sprache. Ekrem İmamoğlu, der gewählte Bürgermeister, ist einer der wenigen Politiker, der sich höflicher und konstruktiver äußert. Ich hoffe, er wird sich nicht ändern. Er polarisiert nicht wie Erdogan, der in seinen Reden die eine Hälfte der Gesellschaft gegen die andere stellt.

Was dachten Sie, als die Neuwahlen verkündet wurden?

Ich befürchtete das Schlimmste, als die offiziellen Stellen die Verkündung von İmamoğlus Wahlsieg mehrere Tage hinauszögerten.

Er gewann die Kommunalwahlen am 31. März sehr knapp, mit einem Vorsprung von 24 000 Stimmen.

Stellen Sie sich das mal vor: ein Land, in dem fast alle Medien von einer Stimme kontrolliert werden. Ein Land, in dem die sozialen Medien überwacht werden und kritische Tweets zur Strafverfolgung führen. Ein Land, wo der Opposition keine Stimme gegeben wird und der Führer einer der Oppositionsparteien, Selahattin Demirtae, im Gefängnis sitzt. Trotz alledem stimmt immer noch die Hälfte der Bevölkerung in diesem Land gegen die Regierungspartei.

Bisher regiert Erdogans AKP die Millionenmetropole. Befürchten Sie, dass sich Istanbul bei einem erneuten Sieg verändern wird?

Ich hoffe einfach, dass Ekrem İmamoğlu mehr Stimmen als im ersten Wahlgang erhält. Dass die Menschen sehen, wie unfair er behandelt wurde. Istanbul ist eine Ansammlung von Konflikten, ein komplexer Ort, den man schwer in einem Wort zusammenfassen kann. Ich nenne Istanbul immer eine weibliche Stadt. Sie lässt dich träumen, sie ist ein Magnet für diejenigen, die sich nach Freiheit sehnen. Auf der anderen Seite kann das Leben in Istanbul für Menschen, die entmachtet und benachteiligt sind, sehr schwierig sein. Sexismus, Homophobie und Frauenfeindlichkeit nehmen zu.

In Ihrem neuen Roman „Unerhörte Stimmen“ schreiben Sie von Menschen am Rand der Gesellschaft, von Prostituierten, Transsexuellen und Immigranten. Was wird sich für diese Gruppen ändern?

Der Gay Pride wurde bereits vier Mal hintereinander verboten, der Trans Pride mit Tränengas und Gummigeschossen von der Polizei gestoppt. Es ist gar nicht so lange her, da war Istanbul das Hoffnungszentrum für sexuelle Minderheiten, für den gesamten Nahen Osten – die einzige muslimische Stadt mit einer Schwulenparade. Ich bin selbst einige Male mitmarschiert. Es fühlte sich an, als wäre der Fortschritt unaufhaltsam.

Sie klingen resigniert.

Sehen Sie, ich habe an der Middle East Technical University in Ankara studiert, dort gibt es eine große LGBT-Gruppe. Diese Studenten wurden kürzlich auf dem Campus von der Polizei abgeführt, weil sie für Vielfältigkeit demonstrierten. Ihr Verbrechen bestand darin, sich für die Liebe einzusetzen, zu zeigen, wer sie sind.

Sie leben bereits mit Ihrer Familie im Ausland, vor zehn Jahren sind Sie nach London gegangen.

Eine Zeit lang habe ich überlegt, nach Berlin zu ziehen. Wäre ich in der Lage gewesen, die Sprache zu verstehen, hätte ich das getan. Berlin fasziniert mich nach wie vor, die kulturelle Energie ist groß.

Wir treffen uns in einem Hotel am Bahnhof Zoo. Ganz in der Nähe, am Kurfürstendamm, haben Sie 2005 Ihren Mann geheiratet.

Damals war ich Fellow am Wissenschaftskolleg, wo Gelehrte, Philosophen und Wissenschaftler zusammengebracht werden. Ich bin kein Freund von großen Zeremonien, von Hochzeitskleidern. Ich habe ein normales schwarzes Kleid zu unserer Hochzeit getragen. Wir haben ein schönes Essen mit unseren Freunden gehabt, gemeinsam Wein getrunken und uns viele Reden angehört.

Danach mit Hupkonzert über den Ku’damm?

Nein, ganz bestimmt nicht.

„Ich bewege mich an der Peripherie, im Dazwischen“

Anhänger des Oppositionspolitikers Ekrem İmamoğlu auf den Straßen von Istanbul.
Anhänger des Oppositionspolitikers Ekrem İmamoğlu auf den Straßen von Istanbul.

© imago/depo photos

Hatten Sie damals Kontakt mit Deutschtürken?

Es gehört zu meinen herzlichsten Begegnungen, als ich nach einer Lesung hungrig in ein Dönerlokal gegangen bin, der türkische Kellner mich erkannte und nur für mich ein vegetarisches Gericht zusammenstellte, weil ich damals kein Fleisch aß. Er hat mir keinen Cent dafür berechnet.

In der Türkei werden Sie gerade nicht sehr freundlich empfangen. Meiden Sie Ihr Heimatland?

Ich fühle mich den Menschen dort sehr verbunden. Im Ausland lebe ich seit mehr als zehn Jahren. Das ist nicht neu. Neu ist, dass ich mich nicht mehr wohl fühle, zurückzukehren, weil es keine Rechtsstaatlichkeit und Meinungsfreiheit gibt. Ich lebe in einer Art Exil. Es gibt auch viel Intoleranz, zum Beispiel habe ich nach meinem TED-Talk viel Diffamierung und Beleidigungen erlebt.

Darin sprachen Sie erstmals über Ihre Bisexualität. Lange wollten Sie das nicht, aus Angst vor Beschimpfungen, Stigmatisierung und Hass.

Und genau das ist eingetreten. Sieben oder acht Wochen lang gab es in den türkischen Medien und in den sozialen Netzwerken alle möglichen negativen Kommentare. Voller persönlicher Beleidigungen. Es war sehr schwierig, das durchzustehen.

Hat Sie das überrascht?

Nein, ich kenne mein Heimatland. Das Ausmaß fand ich jedoch erschreckend. Das Problem ist, dass in der heutigen Welt meistens die Fanatiker brüllen, die Demokraten flüstern unterdessen. Ab und zu erhielt ich eine E-Mail von Eltern: Mein Sohn ist auch schwul, meine Tochter bisexuell, ich bin so dankbar, dass Sie darüber gesprochen haben, jetzt fühle ich mich weniger allein.

Haben Sie sich vorher mit Ihrer Familie abgesprochen?

Mein Mann und meine engen Freunde haben mich immer unterstützt, obwohl sie wussten, wie unangenehm es werden könnte. Wenn Sie sich meine Romane anschauen, meine Interviews lesen, sehen Sie, dass ich mich oft mit LGBT- und Frauenrechten beschäftigt habe. In der Öffentlichkeit bin ich als Verteidigerin aufgetreten, aber ich hatte nie den Mut zu sagen: Das ist auch meine Geschichte.

Ihre Bücher schreiben Sie auf Englisch, weil Sie, wie Sie selbst sagen, den Humor und die Mathematik dieser Sprache schätzen.

Vielleicht sollte ich es so formulieren: Wenn meine Texte Melancholie, Kummer, Traurigkeit oder Sehnsucht zum Thema haben, finde ich es einfacher, sie auf Türkisch zu verfassen. Doch wenn es um Humor geht, ist das viel leichter auf Englisch. Und meine Bücher haben hoffentlich diese leichte britische Ironie.

Welches türkische Wort könnte man schwer ins Englische übersetzen?

Gurbet. Viele Deutsche können mit diesem Wort etwas anfangen. Es bedeutet so viel wie Heimweh, auch wenn es diese Übersetzung nicht ganz trifft. Du bist an einem seltsamen Ort, im Exil, weit weg von zu Hause, und Sehnsucht sowie eine Spur Einsamkeit schwingen mit. Du stehst am Rande, bist eine seltsame Figur.

Das könnte gut Ihr Selbstverständnis umschreiben.

Ja, ich bewege mich an der Peripherie, im Dazwischen. Einerseits bin ich Teil der Masse, gerade genug, um mich einem Ort zugehörig zu fühlen. Andererseits fühle ich mich genauso als Außenseiterin, um die Dinge mit kritischem Abstand zu betrachten. Ein guter Platz für einen Künstler, jedoch auch ein einsamer.

Wann hat das begonnen, dass Sie sich so sahen?

Immer wenn es um meinen Vater ging. Er verließ meine Mutter, als ich sehr klein war. Ich wuchs auf, ohne ihn oft zu sehen. Später erfuhr ich, dass er meinen Halbbrüdern ein sehr guter Vater war.

Waren Sie eifersüchtig?

Das wäre ich gewesen, hätte ich früher davon gewusst. Aber ich habe mir das erst mit Anfang 20 wie ein Puzzle zusammengesetzt. Und dann ist man nicht mehr eifersüchtig, man ist wütend.

„Wir haben unsere Sprache türkifiziert“

Graffiti im Szeneviertel Beyoğlu.
Graffiti im Szeneviertel Beyoğlu.

© imago/ipon

Auf Türkisch schreiben Sie nur noch, wenn Sie für Rockmusiker texten.

Einen Text habe ich für Teoman verfasst, den ich für einen außergewöhnlichen Sänger halte. Ich kann Ihnen sagen: Ich selbst mag eher Musik, die nur wenige hören. Die Leute denken, ich würde eher sanfte Musik mögen, weil in meiner Literatur Mitgefühl durchscheint. Tatsächlich höre ich laute, aggressive Musik. Industrial, Metal, viel skandinavisches Zeug.

Schreiben Sie doch für eine türkische Metalband!

Warum nicht? Jede Sprache eignet sich für jede erdenkliche Musikrichtung. Rap funktioniert letztlich auch in allen Sprachen. Meine ersten Romane habe ich noch auf Türkisch verfasst, um die Grenzen der Sprache zu erweitern. Wie alles andere in der Türkei bekam das sofort eine politische Dimension. Wir haben unsere Sprache türkifiziert, als Atatürk 1923 die Republik gründete.

Das heißt, arabische Lehnwörter wurden nicht mehr verwendet.

Wenn du progressiv und ein Liberaler bist, sollst du bitte nur moderne Wörter benutzen. Keine alten, an denen hängen nur Konservative oder Religiöse. Ich als Schriftstellerin denke, wir brauchen sowohl die neuen als auch die alten Wörter. Es ärgert mich, dass ich im Türkischen gelb und rot sagen kann, es für die Zwischentöne aber keine Bezeichnungen mehr geben soll. Denn die stammten aus dem Persischen. Wenn Sie sich ein osmanisches Wörterbuch anschauen, werden Sie feststellen, dass es ziemlich dick ist. Ein modernes türkisches Wörterbuch ist nur halb so groß.

Wo haben Sie die alten Wörter gelernt?

Ich habe meine Muttersprache nie als etwas Selbstverständliches betrachtet. Meine Mutter arbeitete als Diplomatin. Daher lebten wir in den 70er Jahren einige Zeit in Madrid. Als ich mit 15 zurückkam, war mein Türkisch zurückgeblieben. Ich verstand manche Witze oder Slangbegriffe nicht. Also kaufte ich mir ein Notizheft und begann, Begriffe zu sammeln, Phrasen aufzuschreiben, Türkisch zu studieren. Über die Jahre habe ich damit weitergemacht.

Schmerzt es Sie, nicht mehr nach Istanbul zu reisen und solche Erfahrungen zu machen?

Ich vermisse die Stadt sehr. Die Möwen, den Salzgeruch in der Luft, die Menschen, die Straßen, die Graffiti. Ich habe immer Graffiti gesammelt, als ich noch dort lebte. Hunderte, wenn nicht Tausende von Sprüchen an der Wand. Das war die Inspiration für meinen Roman „Der Bonbonpalast“, wo ich all die verschiedenen Schriftzüge über Abfall verwendet habe. Wenn Sie sich in einem eher konservativen Stadtteil wie Fatih aufhalten, steht da zum Beispiel: „Werfen Sie Ihren Müll nicht hier hin. Allah mag keine dreckigen Menschen.“ In einem Boheme-Viertel wie Beyoğlu war so eine Aufforderung stattdessen gewitzter und mit sexuellen Anspielungen gewürzt.

Dort haben auch Sie lange gelebt.

In der Straße der Kesselflicker, die steil vom Taksim-Platz nach unten führt. Früher wohnten dort vor allem Juden und Christen: Armenier, Griechen. Viele gingen nach 1955 weg, weil ein nationalistischer Mob die Läden angezündet hatte und die Christen sich nicht mehr wohl in der Gegend fühlten. In den 70er Jahren zogen Transgender und andere sexuelle Minderheiten in das Viertel. Und in den späten 1990er Jahren, als auch ich dort hinkam, folgten die Bohemiens.

Einer Ihrer Nachbarn war damals ein älterer armenischer Transvestit.

Menschen wie er waren Überreste der Vergangenheit. Ich dachte mir: Das ist keine Straße, das ist ein Schiff, wir alle sind Passagiere, morgen werden wir wieder von Bord gehen, und jemand anders wird einziehen. Aber von jedem bleibt etwas zurück. Und mein Job als Geschichtenerzählerin ist es, nach den Überresten zu suchen.

Ihr neuer Roman spielt unter anderem in der Straße. Kommt darin etwas vor, was Sie erlebt haben?

Als ich dort wohnte, gab es einen konservativen religiösen Lebensmittelhändler, der auch im Buch vorkommt. Er verkaufte keinen Alkohol, keine liberalen Zeitungen, und er weigerte sich, mit Transgender-Menschen zu sprechen. Im Jahr 1999 gab es ein Erdbeben in Istanbul, bei dem in wenigen Minuten 10 000 Menschen starben. Die Leute flüchteten um drei Uhr nachts aus ihren Häusern. Plötzlich sah ich diesen Händler, wie er auf dem Bürgersteig neben einem Transgender hockte. Beide waren völlig aufgewühlt, sie weinte, ihre Schminke zerlief – und er bot ihr eine Zigarette an. Im Angesicht des Todes war für ein paar Stunden jeder gleich.

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