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Christine Thürmer wandert die Hälfte des Jahres.

© Peter von Felbert

Interview mit der Wander-Queen von Marzahn: „Unterhosen und Klopapier weglassen“

Christine Thürmer saniert Firmen, bis sie dem Ruf der Wildnis folgt. In der Wanderszene heißt sie nur „The German Tourist“.

Christine Thürmer hat 49 000 Kilometer zu Fuß zurückgelegt – und 30 000 mit dem Fahrrad. So zeigt es der Zähler auf ihrer Website, von den USA bis nach Bayern war sie fast überall. Sich selbst bezeichnet sie deshalb als die "meistgewanderte Frau der Welt".

Die Managerin wurde 1967 in Franken geboren, heute lebt die 53-Jährige in Berlin. 2007 hat sie ihren erlernten Beruf aufgegeben, geht nun jedes Jahr wandern und berichtet auf Vorträgen, in Talkshows oder in Büchern von ihren Erlebnissen.

Gerade erschienen ist „Weite Wege wandern“ (Malik Verlag). Darin erzählt Thürmer von ihrer Leidenschaft als „Kilometerfresserin“, besonders auf ihren jüngsten Touren durch den europäischen Kontinent.

Frau Thürmer, Sie sind angeblich weiter gewandert als jede andere Frau der Welt, laufen durch Patagonien, Australien oder auf dem Pacific Crest Trail durch die USA. Wenn Sie, wie jetzt gerade, zu Hause in Berlin sind, leben Sie im Plattenbau in Marzahn. Fehlt Ihnen da nicht etwas?
Überhaupt nicht. Ich wandere ja quasi hauptberuflich, meist ein halbes Jahr, die zweite Hälfte bin ich in Berlin und schreibe an den Büchern. Das ist für mich dann wie Urlaub. Man will ja Abwechslung vom Alltag, ich genieße also die Segnungen der Zivilisation. Aldi, Lidl, Penny direkt vor der Tür, eine funktionierende Dusche, eine kleine Küche. Und: Marzahn ist günstig, die Wohnung hier kann ich finanzieren, während ich unterwegs bin.

Ihr nächster Trip hätte Sie bis Griechenland geführt.
Das stimmt, ich gehe gerade diagonal durch Europa. Letztes Jahr habe ich den ersten Teil geschafft, von Irland nach Deutschland, nun wollte ich von hier über die Alpen, durch Österreich, den Balkan bis Griechenland. Doch daraus wird erst mal nichts.

Corona.
Jetzt plane ich um. Ich will übers Baltikum oder Schweden nach Finnland. Im Norden sind die Bestimmungen etwas liberaler.

Wenn Deutsche ans Weitwandern denken, dann sofort an Hape Kerkeling und den Jakobsweg …
Ach ja, nur sind Pilgerwege leider oft Schrott. Der Jakobsweg zum Beispiel folgt einer historischen Route. Als mittelalterlicher Pilger wollten Sie aber nicht dort laufen, wo es schön ist, sondern, wo Sie schnell vorankamen und wo entlang der Strecke möglichst viel Zivilisation stattfand. Genau an diesen Stellen wurden später Autobahnen und Eisenbahnstrecken gebaut. Neben denen pilgert es sich recht zahm, finde ich, außerdem ist es immerzu laut.

Wie wird man eigentlich „die meistgewanderte Frau der Welt“?
Den Titel habe ich mir selbst verliehen, aber zu meiner Verteidigung: Ich habe mich schwergetan damit. Ich kann nicht ausschließen, dass irgendwo in Timbuktu eine Frau noch weiter gelaufen ist und das nicht publiziert. Aber in unserer Szene kennt man sich. Von denen, die öffentlich zählen, hat keine mehr Kilometer gesammelt als ich. Bald sind es 50 000.

Mehr als einmal um die Erde. Ist Ihnen jemand auf den Fersen?
Eine US-Amerikanerin, Heather Anderson, hat nur rund 3000 Kilometer Rückstand. Aber da sind wir schon bei der Frage, was Wandern eigentlich ist. Die Anderson schafft an manchen Tagen bis zu 70 Kilometer. Das ist so schnell, das hat mit Wandern nichts zu tun. Ich schaffe höchstens 40, dann laufe ich aber von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang.

Thürmer bei einer Wanderung durch das Murnauer Moos in Bayern.
Thürmer bei einer Wanderung durch das Murnauer Moos in Bayern.

© Peter von Felbert

Was ist Wandern?
Der deutsche Fachverband sagt, dass es zweckentbunden sein muss, man muss also laufen um des Laufens willen, Militärmärsche zählen nicht. Außerdem sollte man die Wanderinfrastruktur nutzen, querfeldein oder immer nur Straße geht nicht. Und ich finde eben, zu schnell sollte man auch nicht sein.

Sie bezeichnen sich selbst als unsportlich.
Plattfüße, X-Beine, fünf Kilo Übergewicht. Eine Journalistin schrieb mal: Mehr als acht Kilometer traut man ihr nicht zu. Sie hat recht, ich bin der gemütliche Typ. Spitzname in der Szene: The German Tourist. Richtig fit muss man auch nicht sein, wenn man das macht wie ich. Ich laufe extrem langsam, das kann jeder. Man muss nur durchhalten. Was glauben Sie, wer öfter abbricht – Männer oder Frauen?

Wenn Sie so fragen: Männer.
Natürlich. Ob man so einen Trail schafft, entscheidet sich nur zu 20 Prozent in den Beinen, der Rest ist Kopfsache. Viele Männer packen das mental nicht. Denen ist langweilig, Essen schmeckt nicht, keine Frauen zum Gucken, was soll ich denn da? Dann werden oft Verletzungen vorgeschoben, aber das ist Quatsch.

Was tun Sie gegen Langeweile?
Ich telefoniere mit meinem Headset. So halte ich Kontakt zu Freunden. Wenn die Liebeskummer haben oder Probleme im Job – mich kann man fast immer erreichen. Dann quatschen wir, wie blöd der Chef wieder war. So bin ich zur Seelentrösterin mutiert.

Eine Partnerschaft ist sicher schwerer zu managen.
Mir war mit 16 schon klar, dass ich nicht der Typ Mensch bin, der sich danach sehnt, eine Familie zu gründen. Insofern ist das nicht schlimm.

Muss man Egoistin sein, um das durchzuhalten?
Ja, gnadenlos. Ich werde immer mal gefragt, ob man mit mir wandern gehen könne. Ich sage: Hell no, nur das nicht. Wenn man diese Distanzen schaffen will, geht das nur, wenn man stur sein eigenes Tempo marschiert.

Ist schon über mehr als sieben Brücken gegangen: Weitwanderin Christine Thürmer.
Ist schon über mehr als sieben Brücken gegangen: Weitwanderin Christine Thürmer.

© Peter von Felbert

Es gab ein Leben vor dem Wandern. Nach dem Studium haben Sie Karriere gemacht als Unternehmenssaniererin.
Genau, als Frau fürs Grobe. Wenn es hässlich wurde, Leute gekündigt wurden – das habe ich erledigt. Neudeutsch nennt man das „Turn-Around-Managerin“.

Und dann waren Sie frustriert von diesem Job und wollten nur noch weg?
Angewidert vom Kapitalismus zieht sie in die Wildnis. Das wäre die klassische Nummer. Nein, ich mochte den Job. Zwar waren da die Kündigungen, aber viel mehr Menschen habe ich den Job gerettet, indem ich geholfen habe, den Arbeitgeber zu sanieren. Nach dem Motto: Bein amputiert, Patient lebt. Als der Laden wieder lief, brauchte man mich nicht mehr. Ich wurde selbst gekündigt, ausgleichende Gerechtigkeit, könnte man sagen. Als ich arbeitslos wurde, passierte parallel noch etwas. Einer meiner besten Freunde erlitt einen Schlaganfall. Er überlebte zunächst, geistig auf dem Stand eines Dreijährigen. Später starb er. Ich dachte mir, was hätte er getan, wenn er gewusst hätte, dass er nicht mehr viel Zeit hat?

Sie haben sich damals, 2004, den Pacific Crest Trail vorgenommen, einen der berühmtesten Fernwanderwege der USA, der von Mexiko bis Kanada führt.
Ich weiß auch nicht mehr, was mich geritten hat. Plötzlich stand ich in der Wüste an der Grenze zwischen Mexiko und den USA, und mir war richtig blümerant. Da stand im Reiseführer: „Nächste Wasserquelle – 36 Kilometer“. Da wurde mir erst klar, was ich vorhabe. Doch ich bin recht stur. Meine Freunde sagen, ihnen sei klar gewesen, dass ich durchhalte.

Woran erinnern Sie sich?
Da kam zum ersten Mal heraus, was mich bis heute bei der Stange hält. Dieses unwahrscheinliche Glücksgefühl, die tiefe Befriedigung, die sich nach einem langen Tag auf den Beinen in mir ausbreitet. Jede Nacht bin ich in meinen Schlafsack gekrochen und hätte vor Freude laut „Hurra“ schreien können. Nach zwei Wochen wusste ich: Das ist nicht mein letzter Trail.

Sie verschweigen unangenehme Begleiterscheinungen wie Blasen, Wadenkrämpfe, blutige Fersen.
Das denken auch die Leute, die auf Amazon meine Bücher negativ rezensieren. Wo bleiben die Qualen, die Schmerzen, die kommen überhaupt nicht vor? Aber all das spüre ich nicht, vielleicht, weil ich so langsam gehe. Klar, einen Muskelkater hat man mal, manchmal wird es kalt. Und auf 5000 Kilometer kommt im Schnitt eine Blase.

Wie schützen Sie sich?
Ich trage Trailrunningschuhe, keine Wanderstiefel, ganz wichtig. Die sind leichter, schneller trocken und reiben nicht so.

Sie sind oft Monate unterwegs. Wie viel wiegt Ihre Ausrüstung?
Ich wandere mit fünf Kilo Gepäck.

Das ist wenig.
Luxus ist, was Sie nicht dabei haben, nicht was Sie dabei haben. Darum lautet Schritt eins vor einer Tour: Bestandsaufnahme. Alle Gegenstände werden gewogen, in eine Excel-Tabelle eingetragen und nach Funktionalität sortiert. Eine Regenhose brauchen Sie nicht, nehmen Sie einen Müllsack mit und schneiden den unten auf, zack, Platz gespart. Schritt zwei: Alles Unnötige weglassen, Unterhosen zum Beispiel. Und Klopapier.

Nicht Ihr Ernst?
Statt Klopapier kann man ein Buch mitnehmen. Die gelesenen Seiten können Sie zweitverwerten. Und Unterhosen haben überhaupt keine Funktion, im Gegenteil, sie saugen sich mit Schweiß voll, die Salzkristalle reiben auf der Haut, Sie laufen sich den Wolf. Es gibt sogar einen Hiker-Fachbegriff für untenrum frei: Going Commando. Das kommt aus dem Militär. Wenn Soldaten nachts geweckt werden und so schnell rausmüssen, dass nicht mal mehr Zeit bleibt, die Unterhose anzuziehen.

Allzu viel wiegt eine Unterhose nicht.
Oh, es zählt jedes Gramm. Darum Schritt drei: wegschneiden. Der Griff der Zahnbürste, die Etiketten aus der Kleidung, unnötige Schnallen am Rucksack. Und schließlich, Schritt vier, austauschen. Jedes Teil, das Sie mitnehmen, gibt es auch in ultraleicht. Man kann von einem Fetisch sprechen, Packlisten werden in unserer Szene gehandelt wie Goldstaub.

Bayern oder doch Kanada? Die Isar könnte auf diesem Bild auch der Yukon sein.
Bayern oder doch Kanada? Die Isar könnte auf diesem Bild auch der Yukon sein.

© Peter von Felbert

Der Begriff Wandern ist nicht besonders sexy. Gibt es eigentlich einen modernen Begriff für das, was Sie tun?
Ja, gibt es, kennt hier nur fast niemand. Nennt sich Thruhiken. Das kommt von den langen Distanzen, die man in einer Saison „durch“-wandert. In den USA gab es da in den vergangenen Jahren einen Wahnsinnshype, auf den langen Trails treffen Sie vor allem Wanderhipster unter 35. Das liegt unter anderem an dem Buch „Wild“, das mit Reese Witherspoon verfilmt wurde. Es erzählt die Geschichte einer Frau, die den Pacific Crest Trail geht. Als ich den 2004 gegangen bin, haben das 300 Leute pro Jahr gemacht. Mittlerweile vergibt die Association 6000 Permits pro Jahr.

Wie erklären Sie sich den Hype?
Es gab in den vergangenen Jahren drei Wanderrevolutionen, die ihn befeuert haben. Die erste war das Ultraleichtprinzip. Die zweite war eine digitale Revolution. Die Karte haben Sie jetzt auf dem Handy, nur noch Freaks schleppen papierne Wanderkarten mit sich herum. Und die dritte Revolution war schließlich das Weitwandern, die Sehnsucht nach Abenteuer als Kontrast zum eintönigen Alltag. Wir in Deutschland haben alle drei Revolutionen sauber verpennt.

Wie meinen Sie das?
Was die Vorstellung von einem Wanderer angeht, sind wir in den 30er Jahren stehen geblieben. Wir denken an Kniebundhosen, Gamsbarthut, Gamaschen. Wanderer sind alt, gelaufen wird am Wochenende, nie lange am Stück. Einen Trail mit Sogwirkung wie den Pacific Crest oder den Appalachian? Haben wir nicht.

Wanderwege gibt es hier genug.
Ja, und es wäre idioteneinfach, daraus einen Deutschland-Trail zusammenzukloppen, und den auch so zu bewerben. Da geht es um Marketing. Das klänge gleich spannender, als wenn Sie sagen, Sie waren auf dem Harzer Hexenstieg.

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Deutschland ist ohnehin ziemlich flach. Je höher, die Berge, desto mehr Spaß, oder?
Landschaft ist nur Kulisse, völlig überbewertet. Klar, Autobahnen müssen nicht sein. Aber der Mythos des Wanderns liegt nicht im Bestaunen hoher Buckel. Es geht um die Überwindung des inneren Schweinehunds. Das geht auch im Flachland.

Ihr Wander-Geheimtipp, haben Sie mal verraten, ist Ungarn.
Da gibt es einen Trail, den Kéktúra, der einmal durchs Land führt. Sie treffen darauf nur Ungarn, extrem nette Menschen, von denen die meisten nur Ungarisch sprechen, eine Sprache, bei der Sie nicht den Hauch einer Chance haben, sie zu verstehen. Ein Abenteuer also, in Ungarn kann man noch Held sein. Und ein Glas Wein kostet 80 Cent.

Sie zelten meist wild. Schlafen Sie ruhig?
Meistens, ja. Einmal, das war in Frankreich, bin ich nachts aufgewacht, weil rund um mein Zelt Männerstimmen laut gebrüllt haben, überall Taschenlampen. Ich dachte an den Ku-Klux-Klan. Ich luge also raus und sehe zwei Meter von meinem Zelt entfernt Stiefel vorüberziehen, immer dieselben. Da hat es mir gedämmert: Ich war den ganzen Tag an Kasernen vorbeigelaufen. Das war eine nächtliche Militärübung. Das Kuriose war: Die haben mich nicht entdeckt. Was nicht für die Soldaten spricht.

Geraten Sie oft in gefährliche Situationen?
Die Outdoorszene ist ja recht männlich besetzt. Und die Herrn neigen zu einem gewissen Heroismus. Eine Tour wird besser, je mehr Bären darin vorkommen. Die Wahrheit ist: Ich laufe nicht durch die Wüste Gobi oder das Himalaya, gefährlich ist es selten. In Australien ist mir beim Laufen mal der Boden unter den Füßen weggebrochen, ich bin fünf Meter in eine Höhle gestürzt. Geblieben ist mir eine Narbe an der Hand. Klapperschlangen habe ich oft gesehen. Und nach 50 000 Kilometern und Hunderten Hundebegegnungen bin ich neulich auch endlich mal gebissen worden.

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