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DDR-Plattenbauten in Berlin-Hohenschönhausen

© Thilo Rückeis TSP

Interview mit dem Soziologen Steffen Mau: „Über Wessis zu lästern, ist entlastend“

Die DDR-Erinnerungskultur geht an vielen Ostdeutschen vorbei, meint der Soziologe Steffen Mau. Er fordert eine innerdeutsche Gesprächstherapie. Ein Interview.

Von Anna Sauerbrey

Steffen Mau, 50, ist Professor für Soziologie an der Humboldt-Universität. Zu seinen Schwerpunkten gehören Ungleichheitsforschung und Europäisierung. Mau wuchs im Rostocker Viertel Lütten Klein auf – die Plattenbausiedlung wurde in den 1960er Jahren hochgezogen und galt als Vorzeigeprojekt. Für das Buch „Lütten Klein – Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft“, das gerade bei Suhrkamp erschien, kehrte Mau nach Rostock zurück. Er untersucht darin, wie die DDR-Zeit in Ostdeutschland nachwirkt.

Herr Mau, in Ihrem neuen Buch „Lütten Klein“ gehen Sie der Frage nach, warum sich Ostdeutschland bis heute in vielem so stark von Westdeutschland unterscheidet. Warum der Name?
Lütten Klein ist der Stadtteil von Rostock, in dem ich aufgewachsen bin, ein sehr großes Neubaugebiet. Dort habe ich nun für das Buch Interviews geführt. Lütten Klein ist aber auch ein Symbol für die Gesellschaft der DDR beziehungsweise Ostdeutschlands insgesamt. Die Art und Weise, wie wir in diesem Neubaugebiet gelebt haben, ist prototypisch, normal könnte man sagen. Fast 70 Prozent der Menschen haben in Rostock in solchen Bauten gewohnt – überhaupt war das in der DDR sehr verbreitet.

Sie sagen Neubauviertel. Westdeutsche würden das als „Platte“ bezeichnen.
Ja, das ist nur ein kleines Beispiel, wie stark sich die Perspektiven auf die Lebensweise in der DDR unterscheiden. Plattenbauviertel werden heute eher negativ gesehen, gerade im Westen. Aber in der DDR waren das arrivierte Wohnmilieus mit einem eigenen Selbstbewusstsein. Die Neubauviertel waren attraktiv. Die Altbauten wurden vernachlässigt, hatten eine schlechte Heizung und undichte Fenster. In den Neubaugebieten gab es „Warmwasser aus der Wand“, wie wir sagten.

Was war denn das „Normal“, was hat die Lebensweise geprägt?
Gerade die Gleichförmigkeit. Wir haben gewohnt wie alle anderen auch. Alle sind auf dieselben Schulen gegangen und in dieselbe Kaufhalle. Wir haben in der Freizeit alle sehr ähnliche Dinge gemacht. Auch sozial gab es wenige Unterschiede. In der DDR ist eine sehr gute, breite Allgemeinbildung vermittelt worden, viele Facharbeiter lasen oder gingen ins Theater. Die Spitzen aber wurden klein gehalten. Die DDR war eine stark nivellierte Gesellschaft mit einer proletarischen, kleinbürgerlichen Mentalität und einer entbürgerlichten Kultur. Dafür steht „Lütten Klein“. Und das prägt Ostdeutschland bis heute.

„Ossi oder Wessi?“ – Streetart in Berlin
„Ossi oder Wessi?“ – Streetart in Berlin

© Rainer Jensen/dpa

Haben Sie in Lütten Klein noch Verwandte oder Freunde?
Verwandte nicht, Bekannte schon. Meine Eltern sind nicht weit weggezogen und gehen dort einkaufen. Ich bin mit 19 fort, habe da aber nach der Wende als Altenpfleger gearbeitet. In den letzten 20 Jahren war ich nur als Durchreisender dort.

Wie war es für Sie, jetzt wieder dort hinzufahren und Interviews für Ihr Buch zu führen?
Ich musste meine Schwellenangst überwinden, auch bei den Leuten gab es Vorbehalte. Für mich war das eine Begegnung mit meinem Gestern. Vertrautheit und Fremdheit mischen sich. Ich habe mich als Lütten Kleiner geoutet. Es gibt zwischen Ostdeutschen eine Art Fraternisierung. In den Interviews sagen die Leute immer wieder: „Ihnen brauche ich das ja nicht zu erklären.“

Zum Beispiel, welche Bedeutung der Trockenraum hatte, dass man dort Geburtstage mit Fischernetzdeko an der Wand feierte, so etwas?
Man muss einfach nicht alles ausbuchstabieren, was einen geprägt hat. Natürlich kann man auch gemeinsam über die Wessis ablästern, das ist ein entlastendes Moment.

Die Wende brachte für viele Menschen Brüche mit sich. In Ihrem Buch verwenden Sie den Begriff der „Fraktur“, den medizinischen Begriff für einen Knochenbruch. Wie stark prägen einerseits Frakturen, andererseits soziale und mentale Kontinuität das Ostdeutschland von heute?
Ich lege zwei Prismen über die DDR-Gesellschaft: Das eine ist die sozialstrukturelle Entwicklung, das andere die Mentalitätsentwicklung. Die beiden Entwicklungen bedingen sich gegenseitig. Man kann sogar sagen, dass der Bruch in der Sozialstruktur die Kontinuität der Mentalitäten verstärkt hat.

Wie meinen Sie das?
In den 80er Jahren versperrte der Staat zunehmend den Zugang zu Hochschulbildung. Weder die sozialistische Intelligenz konnte sich umfassend reproduzieren, noch hatte die Arbeiterklasse Aufstiegschancen. 1989 wurde der Sargdeckel, der auf der DDR-Gesellschaft lastete, geöffnet. Als Soziologen hätten wir gedacht, dass jetzt die freie Berufs- und Studienwahl, das Ende der politischen Kontrolle über gesellschaftliche Positionen, Aufstieg ermöglichen würde. Das Gegenteil ist passiert. Viele Menschen stiegen im Vergleich zu ihren Eltern sogar sozial ab. Günter Gaus nannte die DDR eine „Gesellschaft der kleinen Leute“. Das ist Ostdeutschland bis heute – und es hat sich durch die Wendezeit verstärkt, indem die Leistungsstärkeren und viele Frauen abgewandert sind.

Warum blieben die Aufstiegschancen aus?
Die Märkte brachen zusammen. Die großen Unternehmen blieben im Westen. Führungspositionen wurden durch Westdeutsche besetzt. Ostdeutschland wurde zwar in eine Wohlstandsgesellschaft hineinintegriert, fand sich aber trotzdem auf den untersten Rängen der Bundesrepublik Deutschland wieder.

Manche Populismusforscher vertreten die These, dass der Mangel an Aufstiegsmöglichkeiten und gar nicht unbedingt die aktuelle wirtschaftliche Situation eines Menschen eine große Rolle dabei spielt, ob jemand eine populistische Partei wählt. Kann das die Erfolge der AfD im Osten erklären?
Das hat sicher etwas damit zu tun. Aber die Ursachen für den Erfolg der AfD im Osten sind vielschichtig. Auch politische Faktoren sind wichtig.

Welche?
Die DDR wurde in gewisser Weise „übernommen“. Der Soziologe Claus Offe sprach von der „Selbstauslieferung einer realsozialistischen Konkursmasse“. Die DDR war moralisch, politisch und ökonomisch bankrott und ist wie von einem Insolvenzverwalter übernommen worden. Die Ostdeutschen, die sich soeben als politische Subjekte entdeckten, wurden in die Rolle der Duldenden gedrängt.

„Die DDR war nicht nur eine Diktatur“

Für sein neues Buch recherchierte Steffen Mau im Rostocker Neubauviertel Lütten Klein, wo er aufwuchs.
Für sein neues Buch recherchierte Steffen Mau im Rostocker Neubauviertel Lütten Klein, wo er aufwuchs.

© Jürgen Bauer

Sie waren zur Zeit der letzten Volkskammerwahl Pfleger in einem Altenheim und haben den Wahlkampf dort miterlebt.
Das war faszinierend! Parteivertreter fuhren mit ihren VW-Bussen vor und legten Schokolade mit dem Parteilogo auf die Betten der alten und teils dementen Menschen. Die großen Marktplätze wurden von Willy Brandt und Helmut Schmidt und Helmut Kohl bespielt. Es haben sich keine eigenen Parteistrukturen entwickelt, die politische Kultur kam von außen.

Mit der pauschalen Zustimmung zur Einheit sind die Mitwirkungsmöglichkeiten geschrumpft. Es gab keine verfassungsgebende Versammlung nach Artikel 146 Grundgesetz, in der sich die Ostdeutschen hätten einbringen können. Es wurde nicht einmal versucht, eine Beteiligungsillusion herzustellen. Das wirkt bis heute nach.

Die Flüchtlingskrise hat viele Ostdeutsche allerdings politisiert, zum Schrecken der politischen Mitte. Jetzt wählen sie die AfD …
Der Protest richtet sich oft gegen „die etablierten Parteien“. Da dreht sich das Schwungrad des Unbehagens. Für mich ist das nicht überraschend: Es spiegelt die politische Urerfahrung der Ostdeutschen. Man geht auf die Straße, tut seinen Unmut kund und hofft, dass sich nun etwas ändert. Doch der Protest wird nie überführt in die kleinteilige, oft langweilige und nervige, manchmal wunderbare Erfahrung der Demokratie.

Was hätte man damals anders machen müssen?
Man hätte die Ostdeutschen ermächtigen müssen, beim Spiel um das Erbe der DDR mitzuspielen – durch ein KfW-Förderprogramm, damit Ostdeutsche Zugang zu Kapital erhalten. Man hätte Leute mit Fellowship-Programmen in westdeutsche Betriebe holen und wieder zurückschicken müssen. Über 10.000 ostdeutsche Betriebe wurden verkauft. Nur fünf bis sechs Prozent an neue ostdeutsche Eigentümer, meist kleinere Betriebe. Das DDR-Vermögen wurde in den Westen umverteilt.

Warum gab es nicht mehr Angela Merkels?
Die Biografien dieser erfolgreichen Einzelfälle haben mich immer sehr interessiert, ich habe mit etlichen von ihnen gesprochen. Viele sind sehr früh nach der Wende in westliche Institutionen integriert worden. Manche gingen erst einmal ins Ausland und haben dann in westdeutschen Betrieben Karrieren hingelegt. Viele versteckten ihre Ostherkunft – auch Angela Merkel hat über viele Jahre ihre Herkunft unsichtbar gemacht.

In Ihrem Buch kommen Sie zu dem Schluss, dass diese Hypotheken nicht so schnell zu reparieren sind. Das hieße für die politischen Verhältnisse, für die Stärke der AfD, auch, dass das so bleibt?
Viele sagen jetzt, man muss den Ostdeutschen einfach mal zuhören. Das sei eine Frage der Anerkennung. Da bin ich skeptisch. Eine innerdeutsche Gesprächstherapie kann nicht schaden. Aber ich glaube, die Frakturen sind nicht einfach zu heilen.

Bald feiern wir den 30. Jahrestag des Mauerfalls. Wird dann doch wieder die „Befreiung“ der Ostdeutschen im Mittelpunkt stehen?
Die Erinnerungskultur, die wir größtenteils pflegen, geht an vielen Otto-Normal-Ostdeutschen vorbei. Im Mittelpunkt stehen Diktatur und der Unrechtsstaat DDR. Das ist mitunter Erinnerungspolitik für die Opferverbände und Bürgerrechtler – es ist richtig, daran zu erinnern. Das holt viele andere Ostdeutsche aber nicht ab. Die DDR war nicht nur eine Diktatur. Diese Sichtweise öffnet den Blick auf Dinge, die dieses Land eben auch ausmachte: Privatheit, kleine Freiheiten, sozialer Eigensinn, das Reiben am System.

Sie schreiben im Buch zum Beispiel über das Freiheitsgefühl auf Hiddensee.
Hiddensee war ein Symbol für das freie Leben in der DDR. Aber es gab Motocross-Rennen in Teterow, Blues-Festivals und eine Kleinkunstszene. Es gab eine eigene, non-konformistische Jugendkultur, die sich vom einheitsgrauen Gesellschaftsmodell abgehoben hat, ohne allzu politisch zu sein. Diese mit Risiken verbundenen Freiheiten, die unsicherere Toleranz, waren typisch für die DDR.

Der Mauerfall gehört zu Ihrer Biografie. Wie haben Sie den 9. November erlebt?
Zur Zeit des Mauerfalls war ich Soldat bei der Nationalen Volksarmee. Ich war am Abend des 9. November in Schwerin, in der Werder-Kaserne, und hatte Wachdienst. Ich hatte ein kleines, batteriebetriebenes Radio dabei, unser „Wachradio“, das wir uns bei der Ablösung heimlich zusteckten. Es war ein Westsender eingestellt – und so hörten wir, dass die Mauer gefallen ist. Es hatte alles etwas Unwirkliches. Man steht irgendwo, friert, hat seine Kalaschnikow über den Rücken geschnallt und woanders – nein, eigentlich am selben Ort – bricht ein Gesellschaftsmodell zusammen.

Auch in Rostock gab es Demonstrationen.
Ja, über Freunde und über die Familie haben wir das verfolgt. Es war eine Zeit, die sich anfühlte, als sei man an eine Steckdose angeschlossen, voll elektrisiert und von Adrenalin durchpulst. Man spürte körperlich, wie etwas, das sehr fest gefügt war, brüchig und dann pulverisiert wird.

Während eines Kurzurlaubs hatten Sie dann doch noch Gelegenheit, an einer Demonstration teilzunehmen – auch wenn sich an der strengen Kasernierung der Soldaten zunächst nichts änderte.
Das war etwas später, am 3. Dezember 1989. An diesem Tag folgten Hunderttausende dem Aufruf, eine Menschenkette durch das ganze Land zu bilden. Wir sind mit ein paar Leuten nach Kavelstorf südlich von Rostock gefahren, weil wir gehört hatten, dass es dort ein geheimes Waffenlager gab, das zum Imperium von Alexander Schalck-Golodkowski gehörte, dem Devisenbeschaffer der DDR.

Er hat mit Kunstgegenständen, DDR-Produkten, aber auch Waffen gehandelt, um die DDR liquide zu halten. In Kavelstorf drängten die Menschen die Bewacher zurück und öffneten die Türen zu den Lagerhallen. Für die NVA und die DDR-Führung waren diese Entdeckungen verheerend. Die NVA hatte sich als eine Armee dargestellt, die lediglich die sozialistischen Errungenschaften verteidigen sollte, in Abgrenzung zum imperialistischen Aggressor im Westen, der Bundeswehr. Nun wurde bekannt, dass in Kriegsgebiete Waffen verkauft wurden. Die Menschen stellten fest, dass sie, auf Deutsch gesagt, verarscht worden waren.

Sie nutzen Begriffe aus der Pathologie, sprechen von einem „Obduktionsbefund“. Ist es nicht genau das, was viele Ostdeutsche ärgert – dass sie als „Anomalie“ des normalen Deutschlands gesehen werden?
Man muss mit diesen medizinischen Metaphern extrem vorsichtig sein. Und ich will keinesfalls den Eindruck erwecken, es gebe eine westdeutsche Normgesellschaft, in die sich die Ostdeutschen dann hineinintegrieren müssen. Ich will deutlich machen, dass es um mehr geht als eine oberflächliche Reizung.

Wir haben zu lange gedacht, die Wiedervereinigung sei ein Leichtes. Jetzt erkennen wir, was lange verdrängt worden ist: die kulturellen Verluste, die sozioökonomischen Deklassierungen, die politische Marginalisierung. Unsere Naivität holt uns ein wie ein Bumerang. Der Aufstieg der AfD im Osten ist Teil davon.

Sie schreiben, dass viele Leute, die rückblickend über das Lütten Klein vor der Wende sprechen, sagen: „Alles war da.“ Wie ist es heute?

Lütten Klein ist ein recht positives Beispiel für die Entwicklung eines DDR-Neubaugebietes. Praktisch kein Leerstand, Kino, Ärztehaus. Doch die Alteingesessenen sehnen sich nach den nachbarschaftlichen Kontakten, die in der DDR gelebt wurden. Alles noch da – und dann auch wieder nicht.

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