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Günter M. Ziegler studierte in München und machte seinen Doktor am MIT bei Boston. Bevor er 2011 zur FU kam, arbeitete er als Professor an der TU Berlin.

© Mike Wolff

Interview mit dem FU-Präsidenten Günter Ziegler: „Meinen Doktor habe ich auf Gin Tonic gemacht“

Wer nebenher Mails checkt, kann kein erfolgreicher Mathematiker werden. FU-Präsident Günter M. Ziegler über Konzentrationsmangel und den Wert des Sonntags.

Günter M. Ziegler ist Mathematiker und Präsident der Freien Universität Berlin. Er ist aktuell auch Sprecher der Berlin University Alliance, in der sich die Freie Universität, die Humboldt-Universität, die Technische Universität und die Charité für die Exzellenzinitiative erfolgreich zusammengetan haben.

Herr Ziegler, Sie sind seit eineinhalb Jahren FU-Präsident und haben mit den Berliner Unis gerade den Exzellenzwettbewerb gewonnen. Zugleich ist Berlin berüchtigt für seine katastrophalen Schulen. Werden immer weniger Berliner an den exzellenten Unis studieren können?
Das Berliner Schulsystem ist einfach sehr heterogen: Es gibt Probleme, aber auch großartige Leistungen. An der Freien Universität haben wir einen internationalen Anspruch und Studierende, die aus der ganzen Welt nach Berlin kommen. Aber wir können bisher nicht beobachten, dass Berliner Abiturientinnen und Abiturienten wegbrechen oder gegen die bayerischen Studierenden nicht mehr konkurrieren könnten.

Sie haben ein bayerisches Abitur von 1,0, die dritte Klasse gleich übersprungen. Welchen Anteil hatte die Schule an Ihrer wissenschaftlichen Karriere?
Ich habe mal gesagt, ich sei ein Streber gewesen, aber meine Mutter meint, das soll ich nicht mehr behaupten. Ich war sicher ein übermotiviertes Kind, habe mir aus der Schule abgeholt, was ich gebraucht habe, und alles aufgesogen.

Sie selbst haben an der Uni unterrichtet. Was macht einen guten Lehrer aus?
Die einzelnen Studierenden sind sehr unterschiedlich, das muss man ernst nehmen, und sich darauf einstellen; man muss sich Zeit nehmen und dann die Inhalte passend vermitteln. „Lernen“ bedeutet eben für sehr unterschiedliche Menschen etwas sehr Unterschiedliches.

Aber es gibt doch fraglos Leute, die mehr auf dem Kasten haben als andere!
Wir haben ein Gefühl für Zahlen, einen Blick für Gesichter und für Formeln – oder eben auch nicht. Was heißt unter diesen Umständen „ein gutes Gedächtnis“ haben? Am Ende haben Leute, die langsam lernen, deshalb nicht weniger auf dem Kasten. Auch Einstein soll langsam gelernt haben.

Wie lernen Sie?
Ich persönlich kann eigentlich nur lernen, wenn ich schreibe. Das Ordnen im Gedächtnis geht bei mir durch die Hand.

Sie haben immer wieder erklärt, dass Ihr Erfolgsgeheimnis auch Ihre Konzentrationsfähigkeit ist. Zahllose Untersuchungen sagen, dass sich Kinder immer schlechter konzentrieren können. Sind Erstsemester heute dümmer als vor 20 Jahren?
Bestimmt nicht. Aber die junge Generation kann etwas anderes, sie hat eben auch eine Kompetenz im Umgang mit verschiedenartigsten Medien. Heute interessieren sich junge Studenten durchaus nicht nur für ihr eigenes Fach, sondern auch für das Klima. Die Fridays-for-Future-Studentinnen und -Studenten, mit denen ich zusammengesessen bin, sind mit einem irren Fachwissen ausgerüstet. Trotzdem kann man sich fragen, ob die Konzentrationsfähigkeit in dem Medienchaos, das uns umgibt, noch gehalten werden kann.

Ein mathematisches Problem kann man nicht ohne längere Konzentration lösen.
Richtig. Wenn man heute in theoretischer Mathematik erfolgreich sein will, muss man sich tief in die Sachen reindenken, und das geht eben nicht, wenn man nebenbei noch E-Mails checkt und die Welt rettet. Dafür kann man heute als Mathematiker per Smartphone oder Laptop eben mal Berechnungen machen, für die ich früher vielleicht hätte programmieren müssen. Wir haben ja in der Mathematik die Vorstellung von vergeistigten Theoriegebäuden, aber manchmal hilft es auch einfach mal, zehntausend Beispiele durchzurechnen. Mathematiker wie Euler und Gauß haben sich da noch drei Wochen hingesetzt und wie Verrückte gerechnet.

Und wie retten wir jetzt unsere Konzentration?
Man muss sich ununterbrochene geistige Freiräume sichern. Also ich erzähle jetzt gerade über Dinge, von denen ich eher träume, als dass ich sie vorleben könnte. Aber man könnte ja einfach mal den Sabbat ernst nehmen oder den heiligen Sonntag und sagen: Sonntags wird nur gedacht. Keine E-Mails, nur Bücher.

War das Ihre Jugend?
Ich bin aufgewachsen in einem Wohnzimmer, in dem es keinen Fernseher gab, aber meine Eltern hatten den 24-bändigen Brockhaus, die Ausgabe von 1958, ihrem Hochzeitsjahr. Daneben Kindlers Literaturlexikon. Die Bildungserlebnisse meiner Kindheit sind schon auf das Zeithaben zurückzuführen.

Nächster Halt: Exzellenzinitiative.
Nächster Halt: Exzellenzinitiative.

© picture alliance

Wie haben Sie die Zeit genutzt?
Ich habe meine ganze Kindheit über dicke Bücher verschlungen. Frakturschrift kann ich heute lesen, weil ich Felix Dahns „Ein Kampf um Rom“ durchgehalten habe. Anfang der 80er hatten wir zwei Wochen Urlaub, die ganze Familie war südlich von Bordeaux am Meer. Ich hatte gerade Abitur und eigentlich gar nicht mehr so große Lust, mitzufahren. Die beiden Bücher in meinem Urlaubsgepäck, „Der alte Mann und das Meer“ und „Das Boot“, hatte ich in anderthalb Tagen durch.

Und dann?
Ich habe meine Mutter gefragt, was mache ich jetzt? Sie sagte einfach: „Gut, dann lernst du jetzt Französisch.“ Meine Mutter ist studierte Übersetzerin und Dolmetscherin, und dann hatte ich eben die nächsten zehn Tage bei ihr Unterricht. So habe ich in diesem Sommer Französisch gelernt.

Sie waren fünf Brüder. Die anderen müssen Sie gehasst haben …
Ich bin Nummer zwei, und meine Brüder haben vermutlich unter mir gelitten. Heute können wir darüber lachen.

Abi nach zwölf Jahren, schnelles Masterstudium: Behindert nicht auch die Uni heute diese Freiräume, die Sie sich wünschen?
Die Frage ist, wie sehr man sich davon abhalten lässt. Wir neigen immer dazu, die alten Zustände zu glorifizieren, aber diese manchmal 16 oder 18 Semester in Richtung Mathematik-Diplom, das man am Ende nicht schafft, waren eine Katastrophe. Ein Vordiplom war damals kein Abschluss. Da hat man heute mit dem Bachelor doch etwas anderes in der Hand.

Unsere Welt wird heute von Algorithmen beherrscht. Wir bekommen personalisierte Werbung, unsere Kreditwürdigkeit wird nach unserer Postleitzahl eingeschätzt. Ist Mathe mitunter gefährlich?
Ich bin im Religionsabitur gefragt worden, was denn Heisenberg mit der Ambivalenz von Naturwissenschaft und Technik meint. Damals wusste ich nicht, was Ambivalenz bedeutet. Heute meine ich, Mathematik ist in der Ausprägung von Algorithmen ein Werkzeug, und wie viele Werkzeuge kann man auch dieses natürlich missbrauchen. Trotzdem sollten wir jetzt nicht Angst schüren, sondern erst einmal schätzen, was alles möglich ist. Zugleich ist es wichtig zu wissen, was Facebook oder die Bank mit den persönlichen Daten machen können. Hier muss nicht nur der Einzelne Grenzen setzen, ich sehe auch die Politik gefordert.

Es gibt inzwischen viele Silicon-Valley-Manager, die Bücher darüber schreiben, an was für einem Monster sie mitgearbeitet haben.
Das ist richtig, ich glaube, da ist auch die Welt von der Entwicklung überrollt worden. Man muss da Akteure unterscheiden. Die NSA zum Beispiel hat offenbar irgendwo in der Wüste von Nevada ihr Datenzentrum, mit Speicherplatz von 140 Terabyte für jeden einzelnen Erdenbürger. Da kann man sehr viel speichern. Und dann gibt’s auch noch Facebook und Amazon und Google und Uber und Tesla.

Viele sind an Bewegungsprofilen interessiert.
Auch das könnte etwas Gutes sein, wenn wir über moderne Verkehrssteuerung oder die Ausstattung mit Ladestationen reden. Die Mobilitätswende und die Energiewende in Deutschland müssen sinnvoll geplant werden. Die Hilfsmittel, die wir dafür haben, nicht zu nutzen, wäre unsinnig.

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In der Mathematik wird gern die beruhigende Eindeutigkeit ihrer Ergebnisse gelobt. Der Philosoph Thomas Bauer beklagt, dass gerade unser Bedürfnis nach Eindeutigkeit für große Probleme sorgt: In vielen Debatten gehen die Graustufen verloren.
Wenn sich die Eindeutigkeit der Mathematik in klare und unbezweifelbare Aussagen übersetzt, ist das letztlich etwas Schönes. Aber sobald es in Debatten hineingeht wie etwa den Klimawandel, ist der Übergang von unbestreitbaren und eindeutigen Antworten hin zu Prognosen fließend. Die Frage nach der Klimaerwärmung hängt neben dem CO2-Anstieg von vielen Faktoren ab, da gibt es nicht eine eindeutige Antwort. Die daraus abgeleitete Handlungsempfehlung wird nie so eindeutig sein wie die ursprüngliche Erkenntnis.

Kann Mathematik die Welt also gar nicht erklären?
Mathematik allein kaum, aber mit der Physik zusammen und anderen Wissenschaften schon. Ich glaube, wir haben da als Menschheit schon etwas Gigantisches geleistet in unserem Verständnis der Ökosysteme, des Systems Erde mit den Planetenbahnen und Elementarteilchen. Dass man in Einsteins Gravitationsgleichungen mit nur acht oder neun Symbolen die Form des Universums und die Schwerkraft beschreiben kann, ist unglaublich. Dass es nun mathematische Simulationen gibt, die uns sagen, wie sich Meeresströmungen verändern und welche Auswirkungen das auf das Klima hat, sorgt auch dafür, dass am Ende die Frage, ob und wann wir in Deutschland aus der Kohle aussteigen, eben nicht mehr nur vom Bauchgefühl der Kanzlerin abhängt.

1+1+1=3. Günter M. Ziegler (li.), Michael Müller, Regierender, und Marion Müller von der Einstein Stiftung.
1+1+1=3. Günter M. Ziegler (li.), Michael Müller, Regierender, und Marion Müller von der Einstein Stiftung.

© dpa

Gleichzeitig haben Experten einen so schlechten Ruf wie nie zuvor.
Das würde ich so nicht sehen. Ich denke, dass einerseits eine große Technikgläubigkeit vorherrscht. Da gibt es ein großes Vertrauen in Expertenmeinungen und ihre Handlungsempfehlungen. Andererseits sehe ich eine große Wissenschaftsfeindlichkeit in der rechten Ecke. Die bekommen wir sehr schön beim Brexit vorgeführt, wenn Fachleute die Minister vor den Folgen warnen, und die sagen dann: Das ist mir völlig egal, die Experten haben schon zu viel geredet. Diese Ignoranz wird mit großem Stolz durch die Gegend getragen.

Im Ergebnis wird Leuten, deren Ansichten man ablehnt, gleich das Rederecht entzogen.
Ich war vorletztes Jahr zufällig genau zu der Zeit in Berkeley, als dort zwei umstrittene Redner, Steve Bannon und Milo Yiannopoulos, an der Uni auftreten sollten. Ich habe noch einen Button, auf dem steht „Milo who?“.

Yiannopoulos gilt als rechtsextremer Influencer. Eine konservative Studentenpublikation hatte beide eingeladen, daraufhin riefen Lehrer und Studenten zum Boykott auf.
Diese Veranstaltung hat die Uni fast ruiniert, ich glaube, die haben 600.000 Dollar ausgegeben für Sicherheitsmaßnahmen an einem einzigen Wochenende, an dem Herr Bannon dann doch nicht kam.

Wie stehen Sie dazu?
Die Universität ist ein Ort der Wissenschaft, an dem gelernt, gelehrt, entwickelt und geforscht wird und die entsprechenden Debatten dazu geführt werden müssen. Die Basis für alles, was auf unserem Campus organisiert wird, muss sein, dass es wissenschaftlich relevant ist. Das heißt: Parteipolitische Veranstaltungen gibt es nicht.

An amerikanischen Unis gibt es inzwischen oft „Trigger Warnings“, Warnungen vor Inhalten: Achtung, dieses Buch könnte Sie verstören! Sollte es überhaupt die Aufgabe einer Universität sein, Listen mit Büchern herauszubringen, die man nicht lesen soll?
Nein, genau das würde die Titel für viele erst sehr interessant machen: So eine Liste wäre natürlich automatisch eine Leseempfehlung!

Muss man Studenten denn überhaupt schützen oder nicht viele eher aus der Reserve locken?
Weder das eine noch das andere. Gerade mit der jungen Fridays-for-Future-Generation habe ich nicht den Eindruck, dass man die noch locken müsste. Das wäre bei unserer Generation nötiger gewesen. Ich habe 1981 angefangen zu studieren, wir waren schon ziemlich brav.

Man hört in Berlin immer wieder von Dozenten, die Punktabzug geben, wenn die Sprache nicht gegendert ist. Was sagt die Uni dazu?
Wenn ich selbst rede und wenn ich schreibe, dann achte ich sehr genau darauf, wie ich mich ausdrücke. Eine Direktive gibt es an unserer Universität nicht. Probleme in diesem Zusammenhang sind mir bei uns allerdings auch nicht bekannt.

Wie sieht es mit Drogenproblemen aus? 2013 sagte eine Studie, dass sich jeder fünfte Student mit Medikamenten dopt.
Zu einem aktuell erhöhten Drogenkonsum habe ich keine Zahlen, aber es gibt sicher Studierende, die sich nicht viel zutrauen, vielleicht auch psychische Probleme haben. Diese Themen wurden früher einfach totgeschwiegen. Da ist es gut, wenn darüber geredet wird. Diese Studentinnen und Studenten sind natürlich genauso klug, kreativ und wertvoll für die Forschung und Lehre. Wir würden etwas verlieren, wenn wir diese Leute nicht fit machen und ins universitäre Leben holen.

Wie dopen Sie sich?
Ich sage immer, ich habe meine Doktorarbeit auf Gin Tonic geschrieben – wobei das stets recht wenig Gin und viel Tonic war. Ansonsten habe ich keinerlei Drogenerfahrung. Ich habe in meinem ganzen Leben insgesamt acht bis zehn Zigaretten geraucht, das reicht.

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